Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
wäre ich unsichtbar. Er hielt seinen Zorn im Zaum, solange es ums Geschäftliche ging, aber nun wurde seine Laune zusehends düsterer.
Schweigend fuhren wir mit dem Hotellift zu unserem Zimmer, und die Anspannung wurde immer greifbarer. Vor meinem geistigen Auge lief in Endlosschleifen der gleiche Film ab: Ich sah Eduardo durch die Hand von Mrs. Bethany sterben, und ich hörte das übelkeiterregende Knirschen.
Als wir unseren Raum betraten, erwartete ich, dass Lucas mich sofort anschreien würde, aber das tat er nicht. Stattdessen ging er ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht und die Hände. Er schrubbte so heftig, als fühlte er sich schmutzig.
Dann trocknete er sich mit einem Handtuch ab, und die angstvolle Erwartung war mehr, als ich ertragen konnte. »Sag doch was«, begann ich. »Irgendetwas. Schrei, wenn es sein muss. Nur … schweig mich nicht so an.«
»Was willst du denn von mir hören? Ich habe dir gesagt, du sollst keine E-Mails schreiben. Wir beide wissen das, und wir wissen beide, dass du dich über mein Verbot hinweggesetzt hast.«
»Du hattest mir eben nicht gesagt, warum ich das nicht tun darf.« Daraufhin starrte er mich an, und ich bemerkte, wie armselig meine Worte geklungen haben mussten. »Das ist keine Entschuldigung, ich weiß, aber …«
»Ich habe dir schon vor Monaten gesagt, wir müssen aufpassen, dass die Mails nicht zurückverfolgt werden können. Hast du denn gedacht, ich hätte dir letztes Jahr nicht gemailt, weil ich keine Lust dazu hatte? Warum war das denn nicht genug, um dir klarzumachen, dass es einen guten Grund gibt, es zu unterlassen.«
»Du schreist mich an.«
»Oh, tut mir leid. Ich will ja nicht überreagieren, wenn es um so etwas Unbedeutendes geht wie die Tatsache, dass Menschen getötet wurden .«
In diesem Augenblick traf mich das ganze Gewicht dessen, was ich getan hatte, und zwar mächtiger, als es seit Mrs. Bethanys Angriff der Fall gewesen war. Ich roch den Qualm wieder, und ich erinnerte mich an die Schreie. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie grausam Mrs. Bethany Eduardos Kopf herumdrehte und wie der Glanz aus seinem Blick wich, während er tot zu Boden sank.
Ich rannte aus dem Hotelzimmer; Tränen brannten in meinen Augen. In diesem Moment konnte ich Lucas’ Zorn nicht ertragen, auch wenn ich ihn verdient hatte. Meine eigene Schuld war auf mich eingestürzt und bestrafte mich entsetzlicher, als es Lucas oder sonst irgendwer hätte tun können. Ich musste allein sein und mich ausweinen, doch wohin sollte ich gehen?
Blindlings stolperte ich die Treppe hinauf und hörte, wie mein Schluchzen im Schacht widerhallte, während ich hochrannte. Ich hatte kein bestimmtes Ziel, sondern lief einfach drauflos, als könnte ich dem Wissen darum, was ich getan hatte, auf diese Weise entkommen. Als ich am Ausgang zum Dach angelangt war, ging es nicht mehr weiter, deshalb ging ich hinaus zum Pool. Einige Kinder spielten im Planschbecken, doch im Augenblick hatte ich den tieferen Teil für mich allein. Ich streifte die Sandalen ab, ließ meine Füße ins Wasser baumeln und den Kopf hängen, und ich weinte lange still vor mich hin, bis die Tränen schließlich versiegten.
Als der Abend dämmerte, setzte sich endlich jemand neben mich an den Poolrand: Lucas. Ich schaffte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Er ließ sich an meine Seite sinken, machte seine Schuhe auf und ließ ebenfalls seine Füße im Wasser baumeln. Das hätte mir mehr Mut machen sollen, als es der Fall war.
Lucas sprach als Erster. »Ich hätte dich nicht anschreien sollen.«
»Wenn ich geahnt hätte, was passieren könnte – dass Mrs. Bethany uns daraufhin aufspüren und die Gruppe angreifen könnte –, dann hätte ich doch niemals eine solche Mail geschrieben. Das versichere ich dir.«
»Ist mir inzwischen auch klar geworden. Aber du hättest einen Brief schreiben oder Vic bitten können, deine Eltern anzurufen. Es hätte andere Möglichkeiten für dich gegeben. Wenn du die Sache zu Ende gedacht hättest …«
»Habe ich aber leider nicht.«
»Nein.« Lucas seufzte.
Meine Kurzsichtigkeit hatte Lucas teuer bezahlen müssen, und sie hatte einige der Jäger vom Schwarzen Kreuz das Leben gekostet. Auch wenn viele von ihnen fanatische Kämpfer gegen die Vampire waren, bedeutete das noch lange nicht, dass sie es verdient hatten, kaltblütig ermordet zu werden. Meinetwegen hatten sie dieses Schicksal erlitten. »Lucas, es tut mir so leid. Es tut mir so unendlich leid.«
»Das habe
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