Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
ich, er könnte irgendwie meine Gedanken lesen. Aber das war nicht der Grund für sein Lächeln. »Kannst du es fühlen?«
Ein kühler Luftzug umfing mich. Ich schlang die Arme um die Knie. »Ja, ich merke was.«
Es bildeten sich keine Eiskristalle. Kein Frost malte Gesichter auf die Scheibe. Nichts Sichtbares erschien. Ich wusste einfach, dass Vic und ich vor einer Sekunde noch unter uns gewesen waren. Und nun war jemand bei uns. Jemand .
Zuerst war ich verwirrt. Warum war diese Manifestation nicht so gewalttätig und beängstigend wie die anderen Geistererscheinungen, die ich gesehen hatte? Geister krochen nicht still und leise in eine Zimmerecke; sie schlugen sich den Weg mit Klingen aus Eis frei. So jedenfalls war es in der Evernight-Akademie gewesen.
Doch halt mal . Die Schule war extra so gebaut worden, dass sie Geister abhielt. Eisen und Kupfer, das die Geister verabscheuen, war in die Wände und Säulen der Schule eingearbeitet worden. Auch wenn es den Geistern gelungen war, sich einen Weg hinein zu verschaffen, war es schwer für sie gewesen. Spiegelten die bizarren Ausprägungen der geisterhaften Mächte, die ich bislang gesehen hatte – die eisigen Stalaktiten und das wabernde, blaugrüne Licht – diesen Kampf wider? Vielleicht sahen die Geister in einem gewöhnlichen Haus wie diesem keine Veranlassung für derart dramatische Effekte.
»He, du«, sagte Vic fröhlich. »Das ist meine Freundin Bianca. Sie wird eine Weile in unserem Weinkeller wohnen, gemeinsam mit Lucas, der ebenfalls ein Freund ist. Sie sind toll, du wirst sie lieben.« Es war, als stellte er uns auf einer Party vor. »Sie sind nur ein bisschen nervös, weil unsere Binks hier schon einige Zusammenstöße mit Geistern hatte. Aber das ist nicht persönlich gemeint, okay? Ich will nur sicher sein, dass ihr miteinander auskommt.«
Natürlich kam keine Antwort. Es schien mir, dass das Licht in dieser Ecke des Raumes ein bisschen heller wurde und vielleicht auch ein wenig blauer war, aber der Unterschied war kaum zu bemerken.
Und dann sah ich sie.
Nicht mit meinen Augen; es war nicht diese Art von Sehen. Es war eher, als wenn einen eine so mächtige Erinnerung überfällt, dass man nicht mehr erkennen kann, was vor einem geschieht, weil die Bilder vor dem inneren Auge so lebendig sind. Das Geistermädchen war in meinem Kopf, und es war die gleiche junge Frau wie in meinem Traum – eine von denen, die ich letztes Jahr in der Evernight-Akademie gesehen hatte. War das Vics Geist? Oder ein anderer? Ihr kurzes, helles Haar schien beinahe weiß, und ihr Gesicht war fein geschnitten.
Du kannst gerne bleiben , sagte sie. Das macht keinen Unterschied .
Dann war die Vision vorbei. Erschrocken blinzelte ich einige Male und versuchte, mich wieder zu sammeln. »Oha.«
»Was ist passiert?« Vic sah sich im Raum um, als könnte er irgendetwas erkennen. »Du warst ein paar Sekunden lang wie weggetreten. Ist alles in Ordnung?«
Was hatte mir der Geist mit dieser Botschaft sagen wollen? Ich wusste bereits, dass ich ihresgleichen nicht besonders gut verstand.
Und doch verspürte ich nicht die gleiche Art von Furcht, die ich bislang nach jedem Zusammentreffen mit einem Geist empfunden hatte. Dieses Geistermädchen hatte keine Anzeichen von Feindschaft gezeigt und keine Befehle wie Stopp oder Unsere ausgestoßen. Entweder mochte sie Vic genauso gerne wie er sie und würde Lucas und mich um seinetwillen in Ruhe lassen, oder mein Obsidian war ein wirklicher Schutz.
Vic musterte mich eindringlich und fragte: »Also was war?«
Ich lächelte. »Wir können bleiben.«
Wenigstens für eine kleine Weile hatten Lucas und ich ein Zuhause.
Vic fuhr uns zurück ins Hotel. Ehe er und Ranulf wegfuhren, verschwand Vic unbemerkt zum EC-Automaten und steckte mir danach die versprochenen sechshundert Dollar zu, ein dickes Bündel Scheine, das ich in meine Geldbörse stopfte. Wir bekamen die Schlüssel und den Code, um die Alarmanlage im Weinkeller auszuschalten, und wenn Lucas und ich erst mal Jobs gefunden hätten, würden wir sogar in der Lage sein, Geld zu sparen. Ehe Vic und Ranulf gingen, umarmte ich Vic so fest, wie ich es – außer bei Lucas, klar – noch bei keinem Menschen getan hatte.
Und dann war die Stunde der Wahrheit gekommen.
Während des ganzen Weges zurück hatte Lucas nicht ein einziges Mal gelächelt. Er unterhielt sich ein bisschen mit Vic und Ranulf, dankte Vic dafür, dass er uns Unterschlupf gewährte, doch es war, als
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