Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
schlechte einhergehen. Man kann es nie wissen.«
Nun, da ich mich auf so etwas Weltliches wie unsere Kleidung konzentriert hatte, begann ich, auch in einem größeren Rahmen zu begreifen, was ich rings um uns herum zu sehen bekam. »Maxie … sind wir …? Nein, das kann nicht der Himmel sein.« Ich war mir ganz sicher, dass es im Himmel nicht so schmutzig sein würde, denn trotz der Schönheit vieler Gebäude im Umkreis war dieser Ort ungepflegt. Er war großartig und beeindruckend und doch auch irgendwie abstoßend. Im Grunde erinnerte er mich an meinen ersten Eindruck von New York City.
»Du bist noch nicht im Paradies angekommen«, sagte eine männliche Stimme. »Dies ist eine Zuflucht, denke ich, aber ich maße mir nicht an, diese Dinge zu begreifen. Es ist am besten, wenn wir sie einfach so akzeptieren, wie sie sind.«
Ich drehte mich zu dem Sprecher um, der mit einem Anzug aus dem neunzehnten Jahrhundert bekleidet war und langes, dickes, braunes Haar hatte. Er war ein Erwachsener, der allerdings noch nicht seine mittleren Jahre erreicht hatte – oder besser gesagt war das noch nicht der Fall gewesen, als er starb. Sein entschlossenes Gesicht mit den kantigen Kieferknochen erinnerte mich an die altmodischen Gemälde von berühmten Soldaten oder Admiralen, die vor dem Hintergrund eines unwirklich strahlenden Himmels in die Schlacht zogen. Er hatte breite Schultern, eine schmale Taille, einen festen Blick und stechende Augen.
Maxie grinste, während sie sich tiefer in ihren Mantel schmiegte. »Christopher, ich habe Bianca hergebracht. Bianca, dies ist Christopher.«
»Wir haben uns bereits kennengelernt«, sagte ich, auch wenn das eine unzureichende Beschreibung der seltsamen Begegnungen war, bei denen sich unsere Wege gekreuzt hatten. Als er mir zum ersten Mal während meines Anfangsjahres an der Evernight-Akademie erschienen war, hatte er mich auf so erschreckende Weise bedroht, dass ich seitdem entsetzliche Angst vor ihm hatte. Er hatte jedoch letzten Sommer Charitys Clan davon abgehalten, Lucas und mich zu ermorden. Also beschloss ich, mit dem Offensichtlichen zu beginnen: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr beide mal versucht habt, mich zu töten.«
Christopher stritt den Vorwurf nicht ab, ja er schien völlig ungerührt. »Du hattest nur eine begrenzte Zeit zu leben. Früher oder später musstest du zum Vampir oder zum Geist werden. Wir sind nach Evernight gekommen, als du angefangen hast, Blut zu trinken und dich der Vampirseite in dir weiter anzunähern.«
»Ihr wolltet mich für euch haben«, sagte ich.
»Auch um deiner selbst willen«, erwiderte Christopher. »Zum Vampir zu werden wäre für dich ein kleineres Opfer gewesen als für die meisten anderen Menschen, aber du wärest damit so weit unter deinen eigenen Möglichkeiten geblieben.«
»Außerdem sind Vampire ekelhaft«, fiel Maxie ein. Ich starrte sie an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. »Das ist nicht böse gemeint. Aber komm schon: Das sind tote Körper. Herumlaufende tote Körper, igitt!«
»Ich kann dir versichern, dass das nichts mit meiner Entscheidung zu tun hatte.« Christopher schien Maxies Unhöflichkeit unangenehm berührt zu haben. »Bianca, als Vampirin wärst du nur eine unter vielen gewesen. Aber als Geist hast du größere Macht als beinahe alle deiner Art, und Fähigkeiten, die du gerade erst zu erahnen beginnst.«
»Das ist der Grund, warum du mich und Lucas diesen Sommer vor Charity gerettet hast? Nur um mich davor zu bewahren, zum Vampir zu werden? Für dich war es also nie etwas … Persönliches, ob ich nun getötet oder gerettet würde.«
Er sah belustigt aus. »Wie hätte es etwas Persönliches sein können, wo wir uns doch gerade erst begegnet waren?« Offenbar bemerkte er, wie zornig mich meine Erkenntnis gemacht hatte, denn eilig fügte er hinzu: »Wenn du erst so lange tot bist wie ich, dann wird sich deine Sicht der Dinge verändern, aber sie wird nicht weniger zutreffend sein.«
Na toll, vor mir lagen demnach Jahrhunderte untoten Daseins, ehe die Sache überhaupt einen Sinn ergab. Ich entschied allerdings, dass es wenig nützen würde, deswegen auszuflippen. Ich war ein Geist geworden und musste mich mit dieser Tatsache abfinden. Und Christopher war der Einzige, der mir dabei helfen konnte.
Er war kein Anführer der Geister, hatte Maxie gesagt; offenbar gab es so etwas gar nicht. Aber Christopher war der Mächtigste unter den Geistern, und das aus Gründen, die ich noch nicht erfahren hatte.
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