Evernight Bd.1 Evernight
Grau, Rot, Schwarz oder entsprechend kariert. Das Wappen mit den Raben war als Abzeichen überall zu sehen, und die anderen trugen das Emblem, als gehöre es ihnen. Sie strahlten Selbstbewusstsein, Überlegenheit und Verachtung aus. Ich konnte die Hitze fühlen, die ich verströmte, während ich am Rand des Raumes herumstand und von einem Fuß auf den anderen trat.
Niemand sagte Hallo.
Plötzlich schwoll das Murmeln erneut an. Offenkundig waren unbeholfene neue Mädchen nur wenige Augenblicke ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit wert. Meine Wangen brannten vor Scham, denn anscheinend hatte ich bereits irgendetwas falsch gemacht, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was. Oder spürten sie wie ich selber, dass ich hier nicht wirklich hergehörte?
Wo steckte Lucas? Ich reckte meinen Hals und suchte in der Menge nach ihm. Mir kam es so vor, als wäre ich in der Lage, allem gegenüberzutreten, solange Lucas an meiner Seite war. Vielleicht war es dumm, so über einen Jungen zu denken, den ich kaum kannte, doch das war mir egal. Lucas musste hier irgendwo sein, aber ich konnte ihn nicht finden. Inmitten all dieser Menschen fühlte ich mich völlig allein.
Als ich mich in eine weit entfernte Ecke des Raumes schob, dämmerte mir, dass noch einige andere Schüler in der gleichen Lage wie ich steckten. Besser gesagt: Sie waren ebenfalls neu. Ein Junge mit sandfarbenem Haar und strandgebräunter Haut sah so zerknautscht aus, dass man den Eindruck gewinnen konnte, er hätte in seiner Uniform geschlafen. Allerdings konnte man mit diesem betont superlässigen Auftreten hier keine Punkte machen. Er trug ein offenes Hawaiihemd über seinem Sweatshirt und unter seinem Blazer, und die knallige Fröhlichkeit wirkte in der düsteren Atmosphäre Evernights beinahe trotzig. Ein Mädchen hatte sein schwarzes Haar so kurz geschnitten, dass es mehr wie ein Junge aussah, doch es war kein angesagter Igelkopf, sondern sah vielmehr so aus, als wäre es sich wahllos mit dem Rasierapparat darübergefahren. Die Uniform schlotterte zwei Nummern zu groß um seinen Körper. Um es herum schien die Menge sich zu teilen, als würde sie von irgendeiner Kraft zur Seite gedrängt. Das Mädchen hätte genauso gut unsichtbar sein können. Noch vor unserer ersten Unterrichtsstunde war es als jemand gebrandmarkt, der nicht zählte.
Wie ich mir da so sicher sein konnte? Weil es mir ebenso erging. Ich war am Rande der Menge gefangen, eingeschüchtert vom Lärm der Stimmen, fühlte mich winzig in der riesigen Steinhalle und so verloren, wie es nur möglich war.
»Alle herhören!«
Als die Stimme ertönte, wurde es sofort still. Wir drehten uns zum anderen Ende der Halle um, wo Mrs. Bethany, die Schulleiterin, aufs Podium getreten war.
Sie war eine große Frau mit dickem, dunklem Haar, das sie auf ihrem Hinterkopf aufgetürmt trug wie eine Frau aus viktorianischer Zeit. Ihr Alter konnte ich überhaupt nicht abschätzen. Ihre spitzenbesetzte Bluse wurde am Hals von einer goldenen Anstecknadel zusammengehalten. Falls man über eine Frau, die derartig streng wirkte, überhaupt sagen konnte, sie sei schön, dann war sie schön. Ich hatte sie bereits kennengelernt, als meine Eltern und ich in den Wohntrakt für Lehrer eingezogen waren. Damals hatte sie mir ein bisschen Angst eingeflößt, aber ich hatte mir eingeredet, das käme daher, dass ich ihr zum ersten Mal gegenüberstand.
Allerdings war sie nun noch beeindruckender, falls das möglich war. Als ich sah, wie sie augenblicklich und völlig mühelos über all diese Leute im Raum das Kommando übernahm - über ebendie Leute, die mich in stillschweigender Übereinkunft ausgeschlossen hatten, noch ehe ich den Mund hatte aufmachen können -, begriff ich zum ersten Mal, dass Mrs. Bethany Macht besaß. Nicht die Sorte Macht, die mit dem Amt einer Schulleiterin automatisch einherging, sondern richtige Macht, die von innen heraus kam.
»Willkommen in Evernight.« Sie streckte die Hände aus. Ihre Nägel waren lang und glänzten. »Einige von Ihnen waren schon früher bei uns. Andere haben schon seit Jahren von der Evernight-Akademie gehört, vielleicht von ihren Familien, und sich immer gefragt, ob sie eines Tages in unsere Schule eintreten werden. Und wir haben dieses Jahr weitere neue Schüler, was das Ergebnis unserer veränderten Zulassungspolitik ist. Wir denken, es ist an der Zeit für unsere Schüler, mit einem breiteren Kreis von Menschen bekannt zu werden, die einen ganz unterschiedlichen
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