Evernight Bd.1 Evernight
gewöhnlich eine Weile. Dad fuhr den Wagen an den Straßenrand, wenn wir in Sichtweite einer Brücke waren, Mum knabberte an den Fingernägeln, und ich lachte sie ungefähr eine geschlagene halbe Stunde lang aus, denn so lange dauerte es oft, bis sie all ihren Mut zusammennahmen. Sie beide beschrieben die Schiffsreise in die Neue Welt als die absolut schlimmste Erfahrung, die sie je hatten machen müssen.
Vampire haben Schwierigkeiten mit fließendem Wasser. Einige der menschlichen Schüler hatten sich gefragt, warum die aufsichtführenden Lehrer schon vor uns nach Riverton fuhren, aber ich hatte immer gewusst, dass sie die Brücke in ihrem eigenen Tempo überqueren wollten, ohne zu verraten, in was für einen Aufruhr sie diese Erfahrung versetzte. Nun begriff ich, dass auch Lucas es verstanden hatte, und er hoffte darauf, dass ihm dieses Wissen das Leben retten würde.
Wir setzten unseren Weg fort, bis die anderen vor mir stehen blieben. Diesmal brauchte ich keinen Blitz, der den Weg vor mir erhellte. Schwer atmend schloss ich auf und ging vorbei an Professor Iwerebon, an Balthazar und an meinen Eltern, bis ich schließlich bei Mrs. Bethany ankam, die nur einige Schritte von der Brücke entfernt ausharrte.
»Warten Sie hier auf uns«, befahl sie. »Wir werden gleich weitergehen.« Sie presste die Lippen zusammen, vielleicht im Versuch, ihre einzige Schwäche zu besiegen.
»Er wird uns entwischen.« Ich lief an ihr vorbei.
»Miss Olivier! Bleiben Sie augenblicklich stehen!«
Meine Füße berührten die Brücke. Alte Planken, vom Regen vollgesogen, machten das Fortkommen leichter als der dicke Schlamm.
»Bianca!« Das war mein Vater. »Bianca, warte auf uns. Du kannst das nicht allein machen.«
»Doch, kann ich.« Ich begann zu rennen, Wassertropfen perlten mir übers Gesicht, ich bekam Seitenstechen von der Anstrengung und dem Regenmantel, der schwer auf meine Schultern drückte. Am liebsten hätte ich mich auf die Brücke sinken lassen und geweint. Mein Körper hatte nicht genug Kraft für das, was ich tun musste.
Und doch rannte ich immer weiter, rannte, obwohl meine Beine bleischwer waren und ungeweinte Tränen meine Kehle eng machten. Meine Eltern, meine Lehrer und mein Freund riefen mir hinterher, ich solle umdrehen. Aber ich rannte weiter, und mit jedem Schritt erhöhte ich das Tempo.
Seitdem ich nach Evernight gekommen war - nein, eigentlich schon mein ganzes Leben lang -, hatte ich mich darauf verlassen, dass sich andere um meine Probleme kümmerten. Diese Sache hier konnte niemand für mich erledigen. Ich musste mich ihr selber stellen.
Keine Ahnung, ob ich Lucas jagte oder gemeinsam mit ihm floh. Ich wusste nur, dass ich rennen musste.
Nachdem ich den Fluss überquert hatte, war es für mich nicht mehr sehr schwierig, Lucas’ Spur aufzunehmen. Es war dunkel, und ich verfügte nicht über die Nachtsicht oder das ausgezeichnete Gehör der richtigen Vampire. Trotzdem war es ganz offensichtlich, dass Lucas in Richtung Riverton unterwegs war, und von dieser Stelle aus gab es nicht so viele direkte Wege, die er hätte nehmen können. Lucas musste gewusst haben, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, und ohne Zweifel wollte er so schnell wie irgend möglich fort.
Als Raquel über die Weihnachtsferien wegfuhr, nachdem Lucas schon abgereist war, hatte ich einige Zeit mit ihr an der Bushaltestelle verbracht. Auch wenn sie es kaum erwarten konnte, Evernight hinter sich zu lassen, würde ihre Familie erst abends heimkommen, und so warteten wir auf einen späten Bus, der um 20:08 in Richtung Boston abfahren sollte. Jetzt war es beinahe acht Uhr. Ich war mir sicher, dass Lucas versuchen würde, diesen nächsten Bus zu nehmen. Der darauf folgende würde vermutlich erst Stunden später gehen, und das wäre viel zu riskant. Bis dahin dürften ihn Mrs. Bethany und die anderen längst aufgespürt haben. Der Boston-Bus war Lucas’ einzige Möglichkeit zu entkommen.
Die Vorstadt war beinahe völlig verlassen. Keine Autos rasten über die Straßen, und die wenigen Geschäfte, die sich die Mühe machten, lange geöffnet zu haben, schienen leer zu sein. Niemand wollte in einer solchen Nacht draußen sein. Meine regennassen Haare klebten mir am Kopf, und ich konnte es niemandem verdenken, sein Haus nicht verlassen zu wollen. Ich warf Blicke in einige der offenen Geschäfte, unter anderem in den Laden, in dem wir meine Brosche gefunden hatten. Lucas war nicht dort.
Nein, sagte ich mir . Er weiß, dass wir dort
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