Evernight Bd.1 Evernight
Lucas trat noch einen Schritt näher. Als ich in die Dunkelheit spähte, sah ich seine Silhouette wenige Meter vor mir. »Ich hatte keine Wahl, weder wer oder was ich bin, noch bin ich aus freien Stücken nach Evernight gekommen.«
»Aber du hast dir ausgesucht, mit mir zusammen zu sein.« Auch wenn er versucht hatte, es mir auszureden, oder nicht? Aber erst jetzt begriff ich, wieso.
»Ja, das habe ich. Und ich weiß, dass ich dich verletzt habe. Das tut mir leid. Du bist die letzte Person auf der Welt, der ich je wehtun wollte.«
Er klang, als ob er es völlig ernst meinte. Ich wollte ihm so gerne glauben, wie ich noch nie in meinem Leben etwas gewollt hatte. Nach den Enthüllungen dieser Nacht jedoch konnte ich niemandem mehr Vertrauen schenken. »Kannst du mir sagen, warum?«
»Es würde lange dauern, das zu erklären, und wir haben nicht viel Zeit.«
Der 20:08-Uhr-Bus nach Boston. Ich schielte auf meine Uhr; die in der Dunkelheit leuchtenden Zeiger verrieten mir, dass uns nicht mehr als fünf Minuten blieben.
Ich ging zu Lucas, meine Hände vor mir ausgestreckt, um mir den Weg zu ertasten. Meine Finger streiften Pfauenfedern, staubig vom Alter, und etwas Schmales, Hartes, Kühles, vielleicht ein kupfernes Bettgestell. Lucas wich nach links aus hinter eine Trennwand; aber nein, ich konnte ihn noch immer erahnen. Als ich näher kam, sah ich, dass die Trennwand eine getönte Glasscheibe war.
Wir befanden uns nun im Vorderzimmer des Antikladens, und es war hier weniger vollgestopft und etwas heller. Grünliches, verwaschenes Licht von den Straßenlaternen fiel zu uns herein. Lucas blieb weiterhin hinter der getönten Scheibe. Hatte er Angst vor mir? Schämte er sich, mir gegenüberzutreten? Anstatt um die Scheibe herumzugehen, stellte ich mich direkt davor, sodass wir uns durch das Glas ansehen konnten. Lucas’ Gesicht war in vier Farbquadrate unterteilt, und seine Augen waren dunkel und hatten einen gequälten Ausdruck.
Einen Moment lang wussten wir beide nichts zu sagen. Dann lächelte Lucas mich traurig an. »Hey.«
»Hey.« Ich lächelte zurück, bis ich beinahe anfing zu weinen.
»Bitte nicht.«
»Werde ich nicht.« Mir entfuhr ein Schluchzen, aber dann schluckte ich mühsam und biss mir auf die Zunge. Wie immer verlieh mir der Geschmack von Blut Stärke. »Bin ich in Gefahr?«
Lucas schüttelte den Kopf. Durch das Glas hindurch hatte sein Gesicht die Farben von Edelsteinen: Topas, Saphir und Amethyst. »Nicht durch mich. Niemals durch mich.«
»Sag das Erich.«
»Dann haben sie ihn also gefunden.« Lucas klang nicht im Mindesten so, als wenn er etwas bereute. »Erich hat Raquel belästigt. Erinnerst du dich? Als ich hörte, wie sie über ihr verlorenes Armband sprach, wusste ich, dass ihr die Zeit davonlief. Besitztümer zu entwenden ist ein klassisches Anzeichen dafür, dass sich ein lauernder Vampir bereit macht zuzuschlagen. Erich wollte sie töten, und wenn er eine Chance bekommen hätte, hätte er sie genutzt. Ich glaube, tief im Innern hast du das gespürt.«
Es erschreckte mich, dass ich ihm glaubte. Wenn ich nicht Erichs Blut gekostet und seine Schlechtigkeit selbst gespürt hätte, dann hätte ich Lucas vielleicht misstraut. Aber ich hatte das Böse in Erichs Gedanken gesehen, und ich vertraute darauf, dass Lucas die Wahrheit sagte, wenigstens in diesem Punkt. »Es ist trotzdem hart, sich das vorzustellen.«
»Das weiß ich. Ich bin mir sicher, dass es schwer für dich zu begreifen ist.«
»Sag mir, was ich wissen muss.«
Lucas schwieg eine Weile, und ich war mir nicht sicher, ob er mir eine Antwort geben würde. In dem Augenblick, in dem ich die Hoffnung darauf aufgeben wollte, begann er jedoch zu sprechen: »Am Anfang habe ich dich aus dem gleichen Grund angelogen, wie du mir die Wahrheit verschwiegen hast. Das Schwarze Kreuz ist ein Geheimnis, das ich mein ganzes Leben lang bewahrt habe. Es ist eine Organisation, für die mich meine Mutter schon vorgesehen hatte, sobald ich geboren wurde.« Lucas’ Stimme schien nun von weither zu kommen, als würde er sich in seinen eigenen Erinnerungen verlieren. »Sie brachten mir bei zu kämpfen, diszipliniert zu sein. Und sie schickten mich auf Missionen, sobald ich alt genug war, einen Pfahl zu halten.«
Ich erinnerte mich daran, was mir Lucas in der Vergangenheit von seiner dominanten Mutter erzählt hatte und wie er manchmal das Gefühl hatte, er könne keine Entscheidungen für sich selbst treffen. Endlich begriff ich, was er damit
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