Evernight Bd.1 Evernight
wirklich gemeint hatte. Selbst als er fünf Jahre alt gewesen war und von zu Hause hatte weglaufen wollen, hatte er eine Waffe mitgenommen.
»Zuerst glaubte ich, du seiest eine der anderen menschlichen Schülerinnen. Als du mir von deinen Eltern erzählt hast, dachte ich, dass sie deine wirklichen Eltern getötet und dich adoptiert hatten. Ich ging davon aus, dass du noch nicht herausgefunden hattest, was sie tatsächlich waren.« Seine Augen suchten durch das getönte Glas hindurch meinen Blick, und sein Lächeln war traurig. »Ich habe mir immer wieder vorgenommen, mich zu deinem eigenen Besten von dir fernzuhalten, aber ich konnte es nicht. Es war, als wärst du von der Sekunde an, in der wir uns trafen, ein Teil von mir. Das Schwarze Kreuz hätte mir geraten, dich von mir zu stoßen, aber ich hatte es satt, jeden auf Abstand zu halten. Einmal in meinem Leben wollte ich mit jemandem zusammen sein, ohne mir Sorgen zu machen, was das für das Schwarze Kreuz bedeuten würde. Ich wollte zumindest für kurze Zeit wie ein ganz normaler Mensch leben. Nach der ersten Unterhaltung, die wir geführt haben… Würdest du es mir glauben, wenn ich dir sage, du kamst mir wie ein so nettes, gewöhnliches Mädchen vor?«
Das war das Komischste und das Traurigste, das ich je gehört hatte. »Jetzt weißt du es ja besser.«
»Was du bist… spielt keine Rolle für mich. Das habe ich dir schon gesagt, und es war auch damals die Wahrheit.« Er drehte sich zum Fenster, sodass ich sein Profil und die tief eingegrabenen Sorgenfalten sehen konnte. »Es gibt noch so viel mehr zu erklären, aber der Bus fährt gleich. Verdammt, vielleicht kann ich ja einen späteren…«
»Nein!« Ich presste meine Hände auf die bunten Scheiben. Auch wenn ich noch immer nicht wusste, ob ich Lucas jemals wieder würde vertrauen können, wusste ich jetzt, dass ich ihm nie etwas tun und noch weniger dabeistehen könnte, während Mrs. Bethany und meine Eltern versuchten, ihn zu töten. »Lucas, die anderen sind nicht weit hinter mir. Warte nicht. Geh sofort.«
Lucas hätte in diesem Moment schon aus dem Laden rennen sollen. Stattdessen starrte er mich durch das Glas hindurch an und öffnete langsam seine Handfläche, sodass sich unsere beiden Hände von zwei Seiten gegen dieselbe Scheibe pressten, Finger an Finger. Wir bewegten uns näher, sodass unsere Gesichter nur einige Zentimeter voneinander entfernt waren. Selbst mit dem Buntglas zwischen uns fühlte es sich so innig wie jeder Kuss an, den wir geteilt hatten.
Leise sagte er: »Komm mit mir.«
»Wie bitte?« Ich blinzelte, nicht fähig zu begreifen, um was er mich da gebeten hatte. »Du meinst… ich soll von zu Hause weglaufen? So richtig? So wie du es mir schon an jenem ersten Tag geraten hast?«
»Nur so kann ich mit dir über alles sprechen, was geschehen ist, und… wir könnten uns so verabschieden, wie wir sollten, anstatt…« Lucas schluckte, und ich begriff zum ersten Mal, dass er ebenso traurig und verängstigt wie ich war. »Ich habe genug Geld, um für uns beide Fahrkarten aus der Stadt hinaus zu kaufen. Später kann ich noch mehr Geld abheben, um dich wieder heimzuschicken, wenn du das willst. Wir können sofort aufbrechen. Über die Straße rennen und in den Bus springen. Wir können gemeinsam von hier verschwinden.«
»Willst du mich für das Schwarze Kreuz anwerben?«
»Wie bitte? Nein!« Lucas klang ernsthaft so, als ob er daran noch keinen Gedanken verschwendet hätte. »Dem äußeren Anschein nach wirkst du menschlich. Ich werde mich um dich kümmern, wenn du mit mir kommst.«
Langsam antwortete ich: »Sag mir nur eins noch, ehe ich antworte.«
Lucas sah misstrauisch aus. »Okay. Frag.«
»Du hast gesagt, dass du mich liebst. Hast du mir da die Wahrheit gesagt?«
Ich glaubte, ich könnte es ertragen, wenn er bei sonst allem, selbst bei seinem Namen, gelogen hätte, wenn ich nur auf diese eine Frage eine ehrliche Antwort bekäme.
Er atmete aus, und es war schwer zu unterscheiden, ob es ein Lachen oder ein Seufzen war. »Bei allem, was heilig ist, ja! Bianca, ich liebe dich so sehr. Selbst wenn ich dich nie wiedersehe, selbst wenn wir jetzt hinausgehen und in einen Hinterhalt deiner Eltern geraten, dann werde ich dich immer lieben.«
Inmitten all dieser Lügen hatte ich wenigstens diese eine Wahrheit.
»Ich liebe dich auch«, sagte ich. »Komm, wir müssen rennen.«
17
Zitternd vor Erschöpfung ließ ich mich im Bus auf einen Sitz sinken und
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