Evies Garten (German Edition)
waren zehn Monate seit Moms Tod vergangen, und es hatte sich kein Tor geöffnet, kein wunderschöner Garten war erschienen und auch der Wind hatte ihr weder Trost noch eine Botschaft zugeflüstert. Die Welt war genau so wie Vater sagte: Erde + Wasser + Sonne = Leben. Und alles, was lebte, starb und ging wieder in die Erde ein. Und so begann der Kreislauf immer wieder von vorn. Es sei denn, man war in Beaumont.
Hier schien jedes Leben aufgehört zu haben. Keine Krähe schwirrte mehr über ihren Köpfen umher und selbst der Wind pfiff nicht mehr durch die Äste. Vater drückte auf die Radiotaste. Es knackte, doch in der Stille klang das Rauschen so laut und unangenehm, dass Vater das Radio schnell wieder abstellte. Jetzt war es noch stiller als still.
»Es müsste doch bald ein Schild kommen«, murmelte Vater vor sich hin.
Evie verzog verächtlich das Gesicht. Warum sollte jemand ein Schild für eine Stadt aufstellen, um die sich seit 1900 niemand mehr scherte? Doch es gab tatsächlich ein Schild – ein altes Holzschild am Straßenrand. Darauf stand in großer verschnörkelter Schrift:
Willkommen in Beaumont.
Darunter stand:
Heimat des New Yorker Apfels
, und statt des Wortes war ein Apfel abgebildet. Die aufgemalten Buchstaben waren schon brüchig und auf dem verwitterten Holz verblasst; doch man konnte noch erkennen, wie das Schild ausgesehen haben musste, als die Farben noch frisch und fröhlich waren und die Apfelbäume geblüht und Früchte getragen hatten.
»Wir sind da«, sagte Vater. Evie sah sich um. Doch es gab nichts zu sehen. Hinter der Stadt lagen auf einer Seite ein langgezogenes Waldstück und auf der anderen ein verlassenes Haus am Rand der Apfelplantage. Wie es aussah, waren sie ab jetzt die einzigen Lebewesen in Beaumont.
Und dann sahen sie die Beerdigung.
Auf der linken Seite, abseits der Straße und nicht weit vom alten Haus entfernt, lag ein Friedhof. Das Grau seiner Grabsteine verschmolz mit dem Grau des Himmels, sodass nur die Trauergäste hervorstachen. Es war eine kleine Gruppe von Leuten in langen schwarzen Mänteln, aus denen unten schwarze Hosen oder Strumpfhosen herausragten. Sie standen um eine Stelle herum, an der ein Grab sein musste. Sie hielten ihre Hüte und Schals fest, doch keiner von ihnen rührte sich – als wäre die Zeit stehen geblieben, als wären sie wie durch einen Fluch erstarrt.
»Wer mag da wohl gestorben sein?«, wunderte Vater sich laut. Er fuhr jetzt noch langsamer, damit der Motor in der Stille des Spätnachmittags nicht so laut tuckerte. Evie presste die Nase an die Fensterscheibe. Ihr Magen krampfte sich so stark zusammen, dass sie keine Luft mehr bekam. Der Tag, an dem Mom beerdigt worden war, war genauso düster und grau gewesen. Sie wandte den Kopf ab, doch aus dem Augenwinkel sah sie, wie sich eine Gestalt von der Gruppe entfernte.
Evie wandte sich um. Es war ein Junge, der ungefähr so alt sein musste wie sie selbst. Einen so bleichen Jungen hatte sie noch nie gesehen. Seine Haut wirkte durch den schwarzen Mantel gespenstisch weiß, und an den blassen Händen trug er keine Handschuhe, sodass es aussah, als würde er nur aus Gesicht und Händen bestehen.
Der Junge war der Einzige, der sie und Vater bemerkt hatte. Er drehte sich um und beobachtete, wie der Lastwagen an ihm vorbeikroch. Niemand sonst schien den Jungen wahrzunehmen, und sein Gesichtsausdruck war so einsam und traurig, dass Evie die gespreizte Hand an die Fensterscheibe drückte.
»Siehst du den Jungen da?«, fragte sie, doch sobald sie anfing zu reden, drehte der Junge sich um und mischte sich unter die Trauergäste. Er wurde von einem Meer aus schwarzen Mänteln verschluckt.
Vater sah zum Friedhof. »Jemand in deinem Alter?«
Evie zuckte mit den Schultern. Was für einen Unterschied machte es schon? Doch aus irgendeinem Grund reckte sie den Hals, um ihn im Rückspiegel zu beobachten.
Vater fuhr weiter, und bald waren der Junge und die Beerdigung nicht mehr zu sehen. Die Straße führte jetzt in eine Kleinstadt, und an beiden Seiten tauchten Geschäfte auf. Insgesamt waren es zwölf, doch die meisten waren geschlossen und ein paar waren sogar mit Brettern vernagelt.
Sie fuhren weiter die menschenleere Hauptstraße entlang, die sich hinter der Stadt in der Ferne verlor. An einem Laternenpfosten hing ein Schild mit der Aufschrift CLAIREVILLE 35, DUPONT 48. Fünfunddreißig Meilen bis zum nächsten Ort.
Evie runzelte die Stirn, als sie an einem Spielplatz vorbeikamen, dessen
Weitere Kostenlose Bücher