Evolution der Leere: Roman
welche die Straßen säumten. Da sich niemand mehr um sie kümmerte, überwucherten sie nun die Gebäude, die sie ursprünglich hatten verschönern sollen, versperrten die Eingänge und verhüllten die Fenster. Ein paar der schmaleren Gassen waren aufgrund der dichten Vegetation unpassierbar. Selbst auf den breiteren Straßen kam man nur mühsam voran. Zum Glück war der Weg am Great Major Canal entlang relativ frei.
Die offene Brücke über den Grove Canal war so glatt, dass ihre Überquerung beinahe an eine halsbrecherische Rutschpartie grenzte, und dies trotz ihrer rauen Stiefelsohlen. Vage erinnerte sich Justine daran, dass sie zu Edeards Zeiten über ein Seilgeländer und eine Lauffläche aus aufgenagelten Brettern verfügt hatte. Doch sie schaffte es hinüber, ohne ins Wasser zu fallen.
Dann war sie in Eyrie. Die hohen Türme gemahnten ein wenig an den Architekturstil der Gotik, wenngleich niemals jemand auf der Erde etwas so Krummes und Schiefes wie sie gebaut hatte. Langsam schritt Justine über die breiten Durchgangsstraßen zwischen ihnen, legte den Kopf in den Nacken und versuchte, den einen oder anderen Blick auf die Dornen zu erhaschen, die um jede Turmspitze herum eine Krone bildeten. Der Winkel war vollkommen falsch, aber sie hatte ohnehin nicht vor, auf einen von ihnen hinaufzusteigen, um sich auf der Plattform hoch oben einen besseren Blick zu verschaffen. Nicht heute.
Als sie bei der Kirche der Herrin ankam, war es bereits später Morgen. Kathedrale würde es wohl eher treffen, dachte sie. Drei lange Flügel strebten von der langen, zentralen Kuppel mit ihrer Kristallspitze nach außen, ein jeder mit fünf Balkonebenen ausgestattet, die von schlanken, kannelierten Säulen gestützt wurden.
Die Pforte war verschwunden, ebenso wie sämtliche Bänke. Mit zögernden Schritten trat Justine ein, ein Gutteil nervöser, als sie es normalerweise war, wenn sie die allbekannten Gebäude erkundete. Sonnenlicht schien senkrecht durch die transparente Mitte der Kuppel herab und schuf einen hellen Dunst über dem silbrig-weißen Boden. Mehrere Genistars sahen sie neugierig an, bevor sie in einen der breiten Säulengänge, in dem sie nisteten, davonschlurften. Geformte Genistars gab es natürlich nicht mehr. Das war möglicherweise noch eine Beschäftigungsmöglichkeit für sie: Ge-Schimpansen oder vielleicht Ge-Hunde zu erschaffen, obwohl sie die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie die Formung komplett vermasseln würde, zugegebenermaßen ein klein wenig abschreckte. Selbst Meister Akeem hatte auf der Höhe seiner Fähigkeit eine regelmäßige Misserfolgsquote zu verzeichnen gehabt.
Plötzlich glaubte sie, auf der anderen Seite des hellen Lichtstrahls im Zentrum der Kirche eine Bewegung wahrzunehmen. Weder ihre Fernsicht noch ihre Netzhaut-Zoomfunktionen konnten etwas entdecken, doch sie war verunsichert ... Irgendetwas an der Kirche zerrte an ihren Nerven, wie ein tieffrequenter Ton, den sie nicht ganz hörte.
Blödsinn. Komm schon, Mädchen, reiß dich zusammen.
Sie marschierte geradewegs durch den hellen Flecken aus Licht. Die riesige, weißmarmorne Statue der Herrin hatte überlebt. Sie ragte einsam dort auf, wo einst der Altar gestanden hatte. Hinter ihr ging einer der Säulengänge ab, und abermals hatte Justine das Gefühl, dass sich in den Schatten etwas bewegte. Auf ihren Armen breitete sich Gänsehaut aus. Sie ging weiter, vorsichtiger dieses Mal. Sachte zog ihre dritte Hand am Sicherungsverschluss ihres Holsters. Nur für den Fall ...
Behutsam drang sie in die relative Düsternis des Säulengangs vor. Sie wartete einen Augenblick, bis sich ihre Netzhaut angepasst hatte. Ihre Fernsicht zeigte ihr, dass dort nichts war als leere Luft.
In diesem Moment trat ihr Vater hinter einer Säule zwanzig Meter vor ihr hervor.
Justine stieß einen kleinen Schluchzer der Erleichterung aus und machte einen Schritt vorwärts, bevor sie in der nächsten Sekunde wie vom Blitz getroffen erstarrte. Ein großer Alien tauchte neben ihm auf.
»Dad?«
»Hallo, Liebes. Dem Himmel sei Dank, dass du's bis hierher geschafft hast. Nicht, dass ich mir allmählich Sorgen gemacht hätte, aber ...«
Er lächelte sein schiefes Lächeln, das, welches ihr so vertraut und in diesem Moment so willkommen war, dass sie am liebsten zu ihm hinübergestürmt und ihm um den Hals gefallen wäre. Allerdings ... »Ist das ein Anomine?«
»Yep. Darf ich vorstellen? Tyzak. Er beginnt langsam Interesse an unserer Geschichte zu zeigen.«
Der
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