Evolution
sich winselnd auf und humpelte – als sei sie stark
gealtert – den Strand zum Wald hinauf.
Am Waldrand gab es einen Schatten spendenden Bewuchs aus niedrigen
Farnen. Hohe Bäume ragten über ihr auf. An den Ästen
hingen Trauben roter Früchte, die sie nicht kannte. Der Mund war
zu trocken, um Speichel zu bilden, aber die Zunge schlug gegen die
Zähne.
Sie schaute den Weg zurück, den sie gekommen war. Der
Mangobaum und das Pflanzen-Floß waren nur ein zerbrochenes und
verrottetes, mit Algen bewachsenes Stück Treibholz, das an diese
Küste gespült worden war. Sie sah die reglose Gestalt eines
Anthros – Fleck oder Brille – auf dem löchrigen,
salzverkrusteten Blätterdach liegen. Und hinter dem Floß
brandete das ewige blaugraue Meer gegen das Land an. Es erstreckte
sich, so weit das Auge reichte, bis zu einem Horizont von
unheimlicher geometrischer Perfektion.
Plötzlich ertönten ein Krachen und das Rascheln von
Laub. Streuner zuckte zurück.
Ein Riese brach aus dem Wald wie ein aus dem Unterholz rollender
Panzer. Das große, gedrungene Geschöpf unter einer
großen knöchernen Schale sah aus wie eine riesige
Schildkröte oder vielleicht auch wie ein gepanzerter Elefant.
Der mächtige armierte Körper ruhte auf vier stämmigen
Beinen. Er wedelte mit einem Schwanz, der in einem stachligen
Klöppel auslief. Und als der kleine Kopf sich ins Licht schob,
blinzelten gepanzerte Augenlider. Diese riesige, an einen
Ankylosaurier erinnernde Kreatur war ein Glyptodont. So etwas hatte
Streuner in Afrika nie gesehen.
Freilich war das auch nicht Afrika.
Das gepanzerte Ungeheuer trollte sich. Vorsichtig folgte Streuner
dem Glyptodont tiefer in den Wald. Sie kam zu einer Lichtung, die von
mächtigen Bäumen eingefasst war. Der Boden war mit Aloe
bewachsen. Streuner knabberte an einem Blatt. Es war saftig, aber
bitter.
Sie ging weiter und sah den Schimmer eines stehenden
Gewässers, das sich als flacher, mit Schilf überwucherter
Süßwasserteich herausstellte. Am Ufer grasten zwei
große Tiere. Sie weideten den Bewuchs am Rand des Teichs mit
spatenförmigen Schnauzen ab.
Der Teich befand sich am Rand einer weiten Ebene. Und dort
offenbarten sich nun noch größere Geheimnisse, die auf
Streuner warteten. Die Kreaturen hätten Pferde sein können,
Kamele, Hirsche und kleinere Tiere wie Schweine. Sie wurden von einer
kleinen Familie Dinomyiden begleitet: plumpe, bärenartige
Pflanzenfresser, die große Nagetiere und mit Haselmäusen
und Ratten verwandt waren. Räuber gab es hier auch – diese
Kreaturen jagten in Rudeln wie Hunde, waren aber Beuteltiere, die nur
entfernt mit den Säugetier-Pendants verwandt waren, die anderswo
existierten. Sie waren von einer abweichenden Evolution geformt und
doch für eine ähnliche Funktion ausgelegt.
In einem grünen Schatten in Streuners Nähe drehte sich
ein Kopf und erschreckte sie. Der Kopf hing herunter. Zwei schwarze
Augen schauten sie trübe an. Über dem Kopf war ein
großer Körper mit einem braunen Fell, der wiederum an
Gliedmaßen hing, die einen Ast umklammert hielten. Das war ein
Faultier, eine Art Megatherium.
Schließlich kroch Streuner vorsichtig zum Teich. Das
grünliche Wasser war schlammig und warm. Als sie aber den Kopf
hineintauchte, war es das Köstlichste, was sie je geschmeckt
hatte. Sie trank in großen Schlucken. Bald hatte sie den
geschrumpften Bauch voller Wasser, und ein quälender Schmerz
durchzuckte sie, als ob es sie innerlich zerriss. Sie fiel schreiend
um und spie fast alles aus, was sie getrunken hatte. Doch dann
stieß sie das Gesicht erneut ins Wasser und trank wieder.
Dieser brackige Teich war eigentlich eine fünfzig Meter tiefe
Sickergrube. Sie war entstanden, als das Grundwasser den
Kalksteinboden auflöste. Es gab viele solcher Sickergruben in
der Gegend, die an tiefen Spalten im Gestein angeordnet waren.
Aus der Luft betrachtet hätten die Sickergruben einen weiten
Halbkreis mit einem Durchmesser von etwa hundertfünfzig
Kilometern gebildet. Dieser Bogen von Sickergruben markierte eine
Grenzverwerfung des uralten, längst zugeschütteten
Chicxulub-Kraters, dessen Reste sich unter dem flachen Wasser und den
Sedimenten des Golfs von Mexico erstreckten. Dies war die Halbinsel
von Yucatan.
Streuners Floß, das von einem afrikanischen Fluss ins Meer
gespült und von den Strömungen westwärts getrieben
worden war, hatte den Atlantik überquert.
Nichts auf der Erde war wirklich isoliert.
Alles war durch die Strömungen der Meere
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