Evolution
ein
lebendiges Skelett betrachtete.
Schließlich verstummten Linkshänders unheimliche Rufe.
Die ausgestreckten Finger erstarrten in dieser finalen Geste.
Der geschrumpfte Magen rumorte, und ein letzter Rülpser
entwich dem leblosen Mund.
Streuner schaute die anderen trübe an. Sie waren selbst nur
noch Haut und Knochen, nicht viel besser dran als Linkshänder
und kaum noch als Anthros zu erkennen. Sie unternahmen keine
Anstrengungen mehr, sich zu kämmen oder überhaupt einen
Kontakt herzustellen. Es war, als ob die Sonne alles ausgebrannt
hätte, was sie zu Anthros machte und sie aller Errungenschaften
beraubt hätte, die sie in dreißig Millionen Jahren der
Evolution mühsam erworben hatten.
Streuner wandte sich ab und humpelte unter Schmerzen in die
Deckung ihres Nests zurück.
Sie lag reglos da und bewegte sich nur, um den Schmerz der
schwärenden Wunden zu lindern. Ihr Bewusstsein schien leer, bar
jeder Neugierde. Sie existierte nur noch in einem reptilienartigen
Dämmerzustand. Sie stopfte sich den Mund mit Rinde und trockenem
Laub voll, aber die tote Materie kratzte nur am Gaumen.
Und sie dachte ständig an Linkshänders Leiche.
Sie stand langsam auf und ging zu Linkshänders Körper.
Die Brust war gespalten – durch das Austrocknen der Haut hatte
sich nach dem Tod eine Wunde geöffnet. Aber der Gestank war
seltsamerweise gar nicht so schlimm. In dieser Wasserwüste lief
der Verwesungsprozess, der Linkshänders Leiche im Wald schnell
zersetzt hätte, nur sehr langsam ab. Die Mumifizierung, die
schon zu Lebzeiten eingesetzt hatte, ging weiter.
Vorsichtig schob sie die Hand in die Wunde und berührte fast
schon trockene Rippen. Sie zupfte am Brustfleisch. Es ließ sich
leicht abziehen und brachte den Brustkorb zum Vorschein.
Es war kaum noch Muskelgewebe am Körper vorhanden. Auch kein
Fett, nur Spuren einer durchscheinenden, klebrigen Substanz. Sie sah
die Organe in Linkshänders Bauchhöhle: Herz, Leber und
Nieren. Sie waren geschrumpft und sahen aus wie harte schwarze
Früchte.
Ja, wie Früchte.
Streuner stieß die Hand in den Brustkorb. Er splitterte mit
einem Knacken und brachte die fleischigen Früchte ans Licht.
Sie schloss die Hand um das schwarz verfärbte Herz. Es
löste sich mit einem leisen Reißen.
Sie holte das Herz heraus und biss hinein, als sei es nicht
exotischer als eine seltene Mangofrucht. Das Fleisch war mager,
faserig und widersetzte sich den Zähnen, die nur noch lose im
Kiefer steckten. Doch dann schlug sie die Zähne in das Organ und
wurde mit etwas Flüssigkeit belohnt – Herzblut, das noch
nicht eingetrocknet war.
Anstatt den Hunger zu lindern, war das Fleisch jedoch ein
Appetithappen, der Streuners atavistische Fresslust erst richtig
entfachte. Die Speichelbildung setzte wieder ein, und es wurden
Verdauungssäfte in den schmerzenden Magen gepumpt. Sie erbrach
die ersten Bissen ins Meer, ließ sich aber nicht irritieren und
aß solang weiter, bis sie das feste, faserige Fleisch bei sich
behielt.
Linkshänders milchig-weiße, trübe Augen starrten
noch immer blicklos in die Sonne, die ihn umgebracht hatte, und die
Finger der linken Hand waren noch immer ausgestreckt.
Fleck hatte sich wieder geregt und lief vorsichtig auf Streuner
zu. Ihre Haut war ein straffer Überzug, an dem nur noch ein paar
Büschel des einst so schönen schwarzen Fells klebten.
Neugierig wühlte sie in Linkshänders offener Brust und
holte die Leber heraus, die sie hastig verschlang.
Brille hatte sich in der Zwischenzeit nicht bewegt. Er nahm keinen
Anteil am Schicksal seines Bruders und lag mit gespreizten
Gliedmaßen auf der Seite. Er schien wie tot, aber Streuner
erkannte eine unmerkliche Bewegung. Seine Brust hob und senkte sich
langsam wie das Wogen des Meers: Er investierte die letzte Kraft in
die Atmung.
Streuner ließ sich nun vom Instinkt leiten. Fleck war von
Weißblut geschwängert worden, aber vielleicht hatte ihr
Körper den Fötus auch zerstört und ihn genauso wie die
Muskeln und das Fett verzehrt, um die Funktionsfähigkeit des
Organismus aufrechtzuerhalten. Zwei Weibchen allein hatten keine
Perspektive außer dem Tod. Also musste Brille, das letzte
Männchen, am Leben erhalten werden.
Streuner kehrte zur Leiche zurück und entnahm ihm eine Niere,
auch so ein schwarzes, verschrumpeltes Stück Fleisch.
Sie trug die Niere zu Brille und steckte sie ihm in den Mund.
Schließlich regte er sich. Mit einer Bewegung so schwach wie
die eines Kinds nahm er den Fleischklumpen und nagte
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