Evolution
plötzlich Erinnerungen an den
Bau. Er verspürte eine Art Bedauern und fletschte die
Zähne. Die nimmersatten Jungen fielen über ihn her. In
wenigen Sekunden war es vorbei, der warme Körper zerrissen.
Doch nun regte sich etwas über der Azhdarchiden-Mutter. Sie
drehte den kantigen Schädel und schaute nach oben. Am Himmel
hatten Räuber sich mit der ganzen Wildheit ihrer
bodenverhafteten Gegenstücke zu einer Pyramide formiert. Dann
sah sie, dass der riesige keilförmige Schatten, der über
den kometenerhellten Himmel zog, über den tiefsten Wolken
stand, und sie wusste, dass sie nicht in Gefahr war.
Es war nur ein Luftwal.
Das größte fliegende Tier, das je von Menschen entdeckt
wurde, gehörte zur Art der Azhdarchiden und trug den Namen
Quetzalcoatlus. Mit der Flügelspannweite von fünfzehn
Metern hatte er die des größten Vogels, des Kondors, ums
Vierfache übertroffen und war wie ein kleines Flugzeug
erschienen.
Aber der größte Pterosaurier war noch einmal um eine
Größenordnung größer.
Die riesigen filigranen Flügel des Luftwals hatten eine
Spannweite von hundert Metern. Sein Skelett war ein extrem
leichter Gitterrohrrahmen mit Streben und Hohlknochen. Das Maul war
eine riesige durchscheinende Höhle. Die größte Gefahr
für ihn bestand darin, im ungefilterten Sonnenlicht der
Höhenluft zu überhitzen, aber der Körper verfügte
über eine Anzahl von Ausgleichsmechanismen. Dazu gehörte
die Drosselung des Blutkreislaufs in den gewaltigen Schwingen und
Luftsäcke im Körper, an die die inneren Organe Wärme
abführten.
Er brachte sein Leben in der dünnen hohen Luftschicht der
Stratosphäre zu, die über den Bergen und über den
meisten Wolken lag. Doch selbst in dieser großen Höhe gab
es noch Leben: ein vom Winde verwehtes, feines Plankton aus Insekten
und Spinnen. Manchmal wurden Schwärme sich paarender Milben und
sogar Heuschrecken in diese luftigen Höhen getragen. Das war die
karge Kost des Wals, die er stetig in sein großes Maul
schaufelte.
Hätte er einen Blick nach unten geworfen, dann hätte der
Luftwal vielleicht das kleine Drama mit Zweiter, den
Azhdarchiden-Jungen und dem Pterosaurier verfolgt. Doch hier oben
waren solche entfernten Ereignisse unwichtig. Wenn der Wal den Blick
über sein luftiges Reich schweifen ließ, sah er die
Krümmung der Erde: das dicke blaue Band dichterer Luft, das den
Horizont markierte und das im Kometenlicht glitzernde Meer. Der
Himmel über ihm färbte sich im Zenit zu Violett. In dieser
Höhe gab es kaum noch Luftmoleküle, die das Licht streuten;
trotz der Helligkeit des Kometen sah er die Sterne.
Der Luftwal besaß die Fähigkeit, die Erde zu umrunden.
Er folgte den Höhenwinden und nutzte die Thermik, ohne auch nur
einmal den Boden zu berühren. Seine Art war nur eine kleine
Population – das Luftplankton vermochte nicht allzu viele
Exemplare zu ernähren –, aber sie war über den ganzen
Planeten verstreut. Drei- oder viermal hatte er sich in seinem Leben
gepaart, wobei eine innere Uhr, die von der Bewegung der Sonne
gesteuert wurde, ihn zu den höchsten Berggipfeln des Planeten
gelenkt hatte. Die Paarung war mechanisch und reizlos; so
große, zarte Wesen vermochten sich die Balzriten der
bodenständigeren Spezies nicht zu leisten. Dennoch brachen sich
manchmal uralte Instinkte Bahn. Es gab Kämpfe – oft heftig
und fast immer tödlich –, und wenn das geschah, regneten
zum Erstaunen der am Boden lebenden Aasfresser mächtige
ätherische Leiber vom Himmel.
Der Wal war das Endprodukt einer brutalen evolutionären
Konkurrenz, die hauptsächlich auf das Abwerfen von Ballast
abgezielt hatte. Alles, was nicht unbedingt notwendig war, war
über die Generationen ausgemerzt worden oder nur noch
rudimentär vorhanden. Und weil es hier oben in der kühlen
Stratosphäre recht beschaulich zuging, umfassten diese
verkümmerten Organe auch das Gehirn des Wals. Der Wal war der
größte und zugleich dümmste Vertreter seiner Art; das
Gehirn war nur noch ein besserer Fluglageregler oder eine organische
Rechenmaschine. Deshalb beeindruckte die majestätische Aussicht
ihn auch nicht im Geringsten.
Nur in der warmen sauerstoffreichen Luft der Kreidezeit hatten
solche riesigen und zarten Geschöpfe sich von den Fesseln der
Schwerkraft zu befreien vermocht, und nie wieder sollte es eine
Genbank wie die Pterosaurier geben, um Rohstoffe für
ähnliche evolutionäre Experimente bereitzustellen. Nie
wieder sollte ein Lebewesen diese besondere ökologische
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