Evolution
Die Jäger wussten, dass die Risse wegen der Form
der Küste jedes Jahr an dieser Stelle entstanden – und
genau deshalb waren sie hierher gekommen.
Freudig liefen die Jäger aufs zugefrorene Meer hinaus. Mit
den Knochenharpunen in den behandschuhten Händen eilten Jahna
und Millo den anderen voraus und hofften, als Erste bei den Robben zu
sein.
Jahna wurde von kleinen Gebirgszügen umschlossen, von
Hügeln aus Eis, die vier bis fünf Meter hoch aufragten.
Schwaden aus Eiskristallen hingen in der Luft, und Möwen
kreisten auf der Suche nach Fisch. Die Eisdecke stöhnte und
knackte über der mächtigen Dünung, und die Luft wurde
von lautem Kreischen durchdrungen. Aber das Eis war zerklüftet:
Die Herbststürme und die Gezeiten um die Landzunge hatten Stapel
aus großen, zerklüfteten Eisschollen aufgetürmt.
Rood und ein paar andere hatten sich am offenen Wasser versammelt
und stießen aufgeregte Rufe aus. Ein Narwal war zum Luftholen
aufgetaucht, und vielleicht würden die Jäger einen
spektakulären Fang machen.
Millo lief wie eine Möwe kreischend durch das Labyrinth aus
Eis. Jahna stolperte hinter ihm her. Sie gelangten an eine Stelle, wo
das Wasser mit gräulichem frischem Eis überzogen war. Aber
das Eis war von kreisrunden Löchern durchbrochen, die einen bis
zwei Schritt durchmaßen.
Millo und Jahna gingen zu einem Loch und spähten hinein. Im
kalten Wasser wimmelte es von Leben. Jahna vermochte das winzige
Plankton zwar nicht zu sehen, mit dem das Wasser geschwängert
war, aber sie sah die kleinen Fische und garnelenartigen Lebewesen,
die sich von ihm ernährten. In diesen kalten, trockenen und
windigen Zeiten wurde der Staub vom Land weit aufs Meer
hinausgetragen und lagerte sich als Eisensalz ab; und durchs Eisen,
das im Meer recht selten vorkam, erblühte das Leben.
Und dann packte Millo sie am Arm und deutete geradeaus. Etwas
weiter draußen auf dem Meer, in der Nähe eines
größeren, mit Matsch überzogenen Lochs, lagen Robben
auf dem Eis. Sie waren schlaffe braune, total entspannte
Fleischbrocken, in deren Pelz Frost glitzerte. Robben wurden immer
von solchen Löchern angezogen, um Luft zu holen oder ein
Sonnenbad zu nehmen.
Das war die Gelegenheit für Jahna.
Mit größter Vorsicht schlichen Jahna und Millo sich
fast lautlos übers Eis an. Wenn eine Robbe den Kopf hob,
erstarrten sie mitten in der Bewegung und duckten sich aufs Eis, bis
die Robbe sich wieder entspannt hatte. Inzwischen war ein
stöhnender Wind aufgekommen. Jahna kam das zupass. Sie
interessierte sich im Moment nicht fürs Wetter; sie hatte nur
Augen und Ohren für die Robben. Aber der Wind
übertönte die knirschenden Schritte.
Sie waren fast dort, fast so nah, um die nächste Robbe zu
berühren. Sie hoben die Harpunen.
Und dann heulte der Wind plötzlich wie ein verwundetes
Tier.
Die Robben wurden aus der Dösigkeit gerissen. Sie richteten
sich auf, bellten, ließen den Blick schweifen und glitten mit
geschmeidiger Eleganz und Schnelligkeit ins Wasser. Millo heulte
frustriert und warf trotzdem die Harpune; sie tauchte nutzlos ins
Wasser und verschwand.
Doch Jahna hatte den Blick gen Himmel gerichtet. Eine vom Wind
getriebene Schneewand senkte sich auf sie herab und färbte die
Welt weiß.
Jahna nahm Millo an der Hand und zerrte ihn hinter einen
schützenden Eisblock. Sie pressten sich gegen das Eis und zogen
die Knie an die Brust. Der Wind kreischte durch Risse und Kanäle
im Eis – so laut, dass sie ihre eigene Stimme nicht mehr
hörte, so laut, dass sie keinen Gedanken mehr zu fassen
vermochte.
Und dann kam der Schnee über sie.
Sie sah nur noch Weiß – kein Meer, keinen Horizont,
keinen Himmel. Es war, als ob sie in einem Ei steckten, sagte sie
sich, in einem geschlossenen Ei und von der Welt abgeschnitten.
Bald klebte der Schnee an ihren Pelzen und türmte sich an der
Eiswand auf. Sie wusste um die Gefahr, wenn es hier an der Windseite
zu einer Schneeverwehung kam, und sie versuchte die sich verdickenden
Schichten spitzer weißer Kristalle abzuwischen.
Aber der Sturm wollte nicht nachlassen. Und mit jedem Herzschlag
stieg die Gefahr, dass Rood und die anderen sich immer weiter
entfernten.
Schließlich verlor Millo die Geduld. Er stieß sie weg
und stand auf, aber der tosende Wind riss ihn fast von den Beinen.
Sie zog ihn wieder herunter.
»Nein!«, schrie er durch den Wind und versuchte sich
wieder loszureißen. »Wir werden sterben, wenn wir hier
bleiben.«
»Wir werden sterben, wenn wir von hier
Weitere Kostenlose Bücher