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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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sie unterwegs ohne Unterlass.
    In diesem Land war Jahna zu Hause, genauso wie Rood und seine
Mutter Jahna vor ihm. Ihre Leute besaßen es – aber nicht
als Eigentum, über das man verfügte; sie besaßen es,
wie sie ihren Körper besaßen. Jahnas Vorfahren hatten
immer schon hier gelebt, über die Generationen hinweg, seit sie
aus dem Nebel der Zeit aufgetaucht waren, als sie, so sagte man, aus
Feuer und Zauberei ins Leben gesprungen waren. Jahna vermochte sich
nicht vorzustellen, woanders zu leben.
    Exakt auf halber Strecke der Reiseroute machte die Gruppe
halt.
    Eine Schneeverwehung hatte sich im Schutz einer Sandsteinklippe
aufgetürmt. Rood räumte den Schnee mit schnellen Bewegungen
weg und grub eine große Scheibe Narwal-Haut aus, an der noch
Fett haftete. Das Fleisch lag schon seit dem letzten Herbst hier, und
ein großer Teil war von Füchsen, Möwen und Raben
aufgefressen worden. Aber Rood schnitt mit einem scharfen Steinmesser
Stücke ab, und bald hatte jeder etwas zu kauen. Das zähe,
halbverfaulte Fleisch war eine Delikatesse. Es hatte sogar einen
eigenen Namen und bedeutete in etwa so viel wie Fleisch-von-Toten. Es
war als Notration hier deponiert worden, für den Fall, dass eine
Reisegesellschaft in Not geriet.
    Die beiden Knochenkopf-Jungen keuchten und hatten offensichtlich
Schmerzen in den Hüften und Beinen. Sie durften sich für
eine Weile ausruhen und wurden mit ein paar Fleischbrocken
abgespeist.
    Die Jäger kamen auf die Prophezeiungen des Schamanen zu
sprechen. »Ich hatte einen Traum«, quäkte Klein Millo.
»Ich träumte, ich wäre eine große Möwe. Ich
träumte, ich fiele ins Meer. Es war kalt. Ein großer Fisch
kam und fraß mich. Es war dunkel. Und dann… und
dann…«
    Die Jäger lauschten andächtig und nickten.
    Träume waren wichtig. Jeden Tag standen die Leute vor der
Entscheidung, welche Nahrung sie sammeln und welche Tiere sie jagen
sollten und ob das Wetter mitspielte. Es war lebenswichtig, die
richtige Entscheidung zu treffen; ein paar falsche Entscheidungen und
die Familie wäre verhungert. Aber sie hatten spezifisches Wissen
über das Land im Kopf, über die Jahreszeiten, die Pflanzen
und das Verhalten der Tiere, das sie im Lauf eines Lebens erworben
und aus der Erfahrung von Generationen gewonnen hatten. Zudem mussten
sie täglich eine Unmenge von Daten erfassen, wie zum Beispiel
über das Wetter und Tiermarken. All diese umfangreichen,
ungesicherten und kurzlebigen Daten mussten verarbeitet werden und
eine schnelle und unumstößliche Entscheidungsfindung
unterstützen.
    Das Denken der Jäger war infolgedessen eher intuitiv als
systematisch und deduktiv. Träume, in denen das Unterbewusstsein
die Möglichkeit hatte, alle verfügbaren Daten zu sortieren
und auszuwerten, trugen wesentlich zu deren Verarbeitung bei. Und mit
ihren Gesängen und Tänzen, Trancen und Ritualen waren die
Schamanen die intensivsten Träumer von allen.
    Die Übereinstimmung der Visionen und Weissagungen des
Schamanen und der Träume von Rood und Millo motivierte die
Jäger und stellte ihnen verlässliche Informationen bereit.
Es zeigte, dass sie sich in tiefem Einklang und Harmonie mit dem
Wesen der Welt befanden.
    Trotzdem wirkte Rood besorgt, sagte Jahna sich. »Vater. Wieso
machst du so ein Gesicht?«, fragte sie ihn, als er die
Knochenköpfe kräftig trat.
    Er schaute mit gerunzelter Stirn zu ihr herab. »Es ist dieser
Traum von Millo. Das Wasser, die Kälte, die Dunkelheit.
    Ja, es kann sein, dass er davon geträumt hat, auf dem Meer zu
jagen und Fische zu fangen. Aber…« Er hob den Kopf und sog
die Luft ein. »Millo hat eine bessere Nase als du und ich,
Tochter. Vielleicht riecht er etwas, das uns entgeht. Aber wir haben
eine Aufgabe zu erfüllen – lass uns gehen und zur See
fahren.«
    Er gab einem Knochenkopf-Jungen einen kräftigen Klaps aufs
Hinterteil, worauf der Schlitten sich wieder auf dem gefrorenen Boden
in Bewegung setzte. Millo, der auf einem Haufen Schlafsäcke
saß, quiekte vor Vergnügen.
     
    Als sie die Küste erreichten, schirrte Rood die beiden
Knochenköpfe aus und ließ sie auf dem gefrorenen Boden
nach Nahrung suchen. Sie würden nicht die Kraft haben
davonzulaufen und schon gar nicht die Cleverness, einen Fluchtversuch
auch nur in Erwägung zu ziehen.
    Das Meer war zugefroren.
    Zu dieser Jahreszeit waren nur die Küstengewässer
eisfrei. Aber das Eis war von Spalten durchzogen, von breiten
Kanälen aus schwarzem Wasser, die von der Spitze einer Landzunge
ausstrahlten.

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