Evolution
heulen; ein Schwall Kaltluft, die vom Pol kam. Es war ein
starker, unablässiger und erbarmungsloser Wind, der eine
große Kältewüste am Fuß der Gletscher
blankgescheuert hatte.
Das Land war ein blau-weißer Flickenteppich mit ersten
grünen Farbtupfern. Die Schlittenkufen glitten zischend
über Bäume: Zwergweiden und -birken, die sich vorm Wind
duckten und an den Boden klammerten. Es war ein flaches Land mit
einer dünnen lebenstragenden Humusschicht über einem tiefen
Permafrostboden. Es war mit Seen gesprenkelt, von denen die meisten
noch zugefroren waren und auf denen das blaue Eis schimmerte, das
auch im Sommer nicht schmolz. Die Teiche, Seen und Marschen des
Sommers waren eigentlich nicht mehr als vorübergehende
Schmelzwasserbecken, die sich überm Permafrost sammelten.
Aber der Frühling nahte. Mancherorts spross schon das Gras,
und Eichhörnchen huschten auf dem Erdboden umher und sammelten
fleißig.
Die Tundra war ein erstaunlich produktiver Ort. Die Pflanzen
umfassten viele Grassorten, Seggen, kleine Sträucher und
Kräuterpflanzen wie Erbsen, Gänseblümchen und
Butterblume. Die Pflanzen wuchsen schnell und reichlich, wo immer es
ihnen möglich war. Und weil die kurzen Blütezeiten der
Pflanzen sich nicht überschnitten, fanden die hier lebenden
Tiere das ganze Jahr über ein üppiges Nahrungsangebot
vor.
Diese komplexe, vielgestaltige Vegetation verhalf einer
großen Population von Pflanzenfressern zu einem Auskommen. In
Osteuropa und Asien gab es Flusspferde, Wildschafe und Ziegen, Rot-,
Dam- und Schalenwild, Wildschweine, Esel, Wölfe, Hyänen und
Schakale. Hier in Westeuropa lebten Nashörner, Bisons,
Wildschweine, Schafe, Rinder, Pferde, Rentiere, Steinböcke, Rot-
und Damwild, Antilopen, Moschusochsen und viele Fleischfresser,
einschließlich Höhlenbären und Löwen,
Hyänen, Polarfüchsen und Wölfen…
Und – wie Jahna im Süden in der schneebedeckten Ebene
sah – Mammuts.
Es war eine große Herde, die gemächlich und ohne Eile
marschierte: ein Wall aus Leibern, der sich von einem Horizont zum
andern erstreckte. Sie aber waren keine echten Wanderer und hatten
den Winter in geschützten Tälern im Süden verbracht,
dem Sammelpunkt eines gewaltigen Auftriebs von Herden aus allen
Himmelsrichtungen. Sie hatten ein dunkelbraunes Fell, und die
Haarvorhänge an Rüsseln und Flanken bauschten sich und
wehten auf dem Marsch und leuchteten golden im Licht der
tiefstehenden Frühlingssonne. Sie sahen aus wie große
fellüberzogene Felsen. Ab und zu hob ein Tier den Kopf, und dann
blitzte ein Rüssel oder ein Stoßzahn auf und ein
schmetternder Trompetenstoß ertönte. Die wollig-behaarten
Mammuts hatten sich zu den erfolgreichsten aller alten
Elefanten-Linien gemausert. Sie waren über den ganzen
Tundragürtel verteilt, der den Pol des Planeten umspannte und
bildeten eine riesige Herde, die zahlenmäßig alle anderen
Rüsseltier-Spezies, die je existiert hatten, in den Schatten
stellte.
In diesem weiten Land, wo so große Beute über freies
Feld marschierte, fiel den Menschen das Jagen so leicht wie nie mehr
in ihrer Geschichte. Doch es stand bereits eine Zeitenwende bevor;
bald würde das Eis sich wieder zurückziehen. Und ob sie
sich dessen bewusst wurden oder nicht, die Menschen hatten schon das
Leben und das Land verändert, wie damals in Australien. Sie
waren noch dünn gesät und schienen ein hartes Leben zu
führen. Aber in gewisser Weise hatten sie ihren Zenit bereits
erreicht.
Während sie unterwegs waren, machten die Jäger sich
gegenseitig auf Landmarken aufmerksam – auf jede Klippe und
jeden Höhenzug, auf jeden Fluss und jeden See. Alles wurde
benannt, sogar Merkmale in großer Ferne, und man hörte
jedem respektvoll zu, der sein Wissen mitteilte und bestätigte.
In diesem lebensfeindlichen Land waren genaue Informationen Gold
wert; wer das Land kannte, überlebte und wer es nicht kannte,
kam um. Deshalb waren Experten viel wertvoller als Führer.
Sie erzählten sich auch Geschichten über Tiere, deren
sie ansichtig geworden waren – wie sie lebten, was sie dachten,
woran sie glaubten. Anthropomorphismus, die Übertragung von
Personen und Charakteren auf Tiere, war ein mächtiges Werkzeug
für einen Jäger. Ein Mammut oder ein Vogel dachten
über die Nahrungssuche und Bewegung natürlich anders als
ein Mensch, aber schon durch die bloße Vorstellung, dass
sie doch so dachten wie Menschen, vermochte man das Verhalten der
Tiere mit großer Präzision vorherzusagen.
Also redeten
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