Evolution
einmal einen Namen. Doch vielleicht schlummerte
irgendwo tief in ihr noch eine Erinnerung an andere, längst
vergangene Zeiten. Also nennen wir sie Erinnerung.
Sie hörte ein Rascheln in den Laubschicht unter sich, das
Geräusch von Fruchtschalen, die durch die Blätter fielen
und die ersten zögerlichen, erstickten Rufe der
Männchen.
Sie rollte sich auf den Bauch und presste das Gesicht ins Bett aus
Zweigen. Sie machte schemenhaft die Kolonie aus, eine dunkle Masse,
die in den tieferen Schichten des Blattwerks hing wie ein
hölzernes U-Boot, das irgendwie in den Bäumen
aufgehängt worden war. Die Kolonie erwachte zum Leben, und
überall bewegten, arbeiteten und zankten sich schlanke
Gestalten. Man begann wieder mit den alltäglichen Verrichtungen.
Und es war nicht ratsam, zu spät zu kommen.
Erinnerung stand auf und brach aus dem Nest, wie ein Vogel aus dem
Ei schlüpft. Nachdem sie sich zu ihrer vollen Größe
von einem Meter aufgerichtet hatte, schwenkte sie den kleinen Kopf
und ließ den Blick durch ihre Welt schweifen.
Der Wald war eine Rhapsodie in Grün. Die Kronen der
höchsten Bäume bildeten ein Dach hoch über ihrem
Standort. Im Norden, Westen und Osten vermochte Erinnerung jenseits
der Bäume ein blaues Glitzern auszumachen. Das vom Meer
reflektierte Licht hatte sie immer schon fasziniert. Und obwohl sie
die südliche Küste nicht zu erkennen vermochte, hatte sie
trotzdem das intuitiv richtige Gefühl, dass das Meer sich dort
fortsetzte, und das Land wie ein breiter Gürtel umschloss: Sie
wusste, dass sie auf einer großen Insel lebte. Aber das Meer
war nicht von Belang, denn es war zu weit entfernt, als dass sie
davon betroffen gewesen wäre.
Dieses besonders dichte Waldstück war aus einer Spalte
gesprossen, die tief ins Urgestein einschnitt. Dieser von massiven
Gesteinswänden geschützte und von Bächen, die durch
die Schlucht verliefen, gespeiste Ort wimmelte nur so von Leben,
obwohl es hier und da auch kahle Stellen gab, die von
Borametz-Bäumen und ihren Parasiten, einer neuen Lebensform,
erobert worden waren.
Die Schlucht war aber nicht natürlichen Ursprungs. Sie war
von langer Zeit aus dem Urgestein gesprengt worden und stellte ein
Resultat menschlicher Straßenbautätigkeit dar.
Die Erosion hatte aber ihren Tribut gefordert: Als die
Entwässerungsgräben und Abwasserkanäle nicht mehr
instand gehalten wurden, waren die Wände kollabiert. Trotzdem
hätte ein aufmerksamer Geologe eine feine dunkle Schicht im
Sandstein entdeckt, die am Grund der Schlucht sich abgelagert hatte.
Dabei handelte es sich um halb zersetztes Bitumen, eine Schicht, die
hie und da noch Fragmente von Fahrzeugen enthielt, die einst hier
entlang gefahren waren.
Selbst jetzt hinterließen die Menschen noch ihre Spuren.
Ein Schatten, von der tief stehenden Sonne geworfen, huschte
lautlos über die raschelnden Blätter hinweg. Es war
natürlich ein Vogel gewesen. Die Räuber in den oberen
Etagen waren schon wach, hielten sich aber bedeckt.
Mit einem letzten Blick auf das ruinierte Nest, das mit Kot,
Haaren und Urin besudelt war und das sie schon in ein paar Minuten
vergessen haben würde, machte sie sich an den Abstieg.
Als der tropische Tag anbrach, waren die Leute schon zwischen den
Bäumen ausgeschwärmt und machten sich auf die mühsame
Suche nach Früchten, unter der Baumrinde lebenden Insekten und
Wasserreservoirs in Blütenkelchen.
Erinnerung hatte aber keine Lust dazu; sie blieb zurück und
schaute den anderen zu.
Es gab Männchen und Weibchen gleichermaßen, wobei ein
paar Weibchen Kinder mit sich herumtrugen. Die Männchen machten
Mätzchen, stießen aggressive Rufe aus und ergingen sich in
Drohgebärden. Das war etwas, das sich im Lauf der Zeit nicht
geändert hatte: Die Struktur der Primaten-Gesellschaft war noch
immer die gleiche, eine Macho-Hierarchie, die einem Netzwerk
duldsamer weiblicher Clans übergeordnet war.
In diesen mittleren Schichten des Waldes wuchsen die
größeren Bäume über die Kronen der kleineren
hinaus. An diesem Ort, der weder allzu tief noch allzu hoch war,
waren die Leute vor den oben und unten lauernden Gefahren relativ
sicher. Und hier, umgeben von den hohen, schlanken Stämmen der
großen Bäume, hatten sie ihre Kolonie errichtet.
Es war eine etwa zehn Meter durchmessende Kugel. Die dicke Wand
bestand aus zusammengepressten Zweigen und Laub. Die Blätter
waren durch Kauen weich gemacht worden, bevor man sie in die Ritzen
des Gebildes gestopft hatte. Das Ganze war dann
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