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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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fest in den Gabeln
der robusten Äste des Baums verankert worden, in dem es
über Generationen hinweg gebaut worden war. Und es war bewohnt:
Ein stetiger Strom aus Kot und Urin floss am Baumstamm hinab, und
auch andere Flüssigkeiten tropften aus den Öffnungen, mit
denen die Basis der Kolonie perforiert war.
    Diese Kugel aus Speichel und Zweigen war die anspruchsvollste
Konstruktion, zu der die Menschenabkömmlinge überhaupt in
der Lage waren. Aber sie war das Resultat des Instinkts, nicht des
Bewusstseins. Bewusste Planung lag ihr genauso wenig zugrunde wie
einem Vogelnest oder einem Termitenhügel.
    Erinnerung sah kleine Gesichter, die furchtsam durch Lücken
in der primitiven Wand der Kolonie lugten. Sie erinnerte sich an die
Zeit, die sie mit ihrem Kind in diesen feuchten, übel riechenden
Wänden verbracht hatte. Der eigentliche Zweck der Kolonie
bestand nämlich darin, die verwundbarsten Mitglieder der
Gemeinschaft vor den Räubern des Waldes zu schützen: Nachts
versammelten die Jungen, die Alten und die Kranken sich in ihren
Wänden. Doch nur die kleinsten Kinder und ihre Mütter
durften auch tagsüber in ihrem Schutz verweilen, während
der Rest sich ins Freie hinauswagte, um Nahrung zu sammeln.
    Und als das vom Blätterdach gefilterte Sonnenlicht auf die
Kolonie fiel, funkelten die Wände. Ins Geflecht aus Zweigen und
Blättern waren helle Steine eingebettet, die man vom Waldboden
aufgesammelt hatte. Es waren sogar Glassplitter darunter. Im Lauf von
Jahrmillionen wurde Glas instabil und milchig, während sich
winzige Kristalle daran bildeten. Trotzdem hatten diese Splitter ihre
Form behalten – Reste von Windschutzscheiben, Heckleuchten und
Flaschen, die nun die Wände dieses formlosen Bauwerks
zierten.
    Es sah zwar aus wie eine Zierde, aber es war keine. Das Glas und
die glitzernden Steine dienten der Verteidigung. Selbst jetzt noch
vermochten diese Leute durch Gebäude Räuber abzuhalten
– sie wurden von den tief verwurzelten Instinkten verjagt, die
sie in der Zeit der gefährlichsten Killer entwickelt hatten, die
jemals auf der Erde gelebt hatten. Also imitierten die
Menschenabkömmlinge Strukturen ihrer Vorfahren, ohne dass sie
sich auch nur vorzustellen vermochten, was sie da imitierten.
    Einst waren die Bäume natürlich das Reich von Primaten
gewesen, wo sie ohne Furcht vor Räubern umherzustreifen
vermochten. Affen und Menschenaffen hatten keine Festungen aus Laub
und Zweigen gebraucht. Die Zeiten hatten sich geändert.
    Ein junges Männchen zischte die herumlungernde Erinnerung an.
Er hatte einen seltsamen weißen Fleck auf dem Rückenpelz,
sodass er fast wie ein Kaninchen aussah. Sie erriet seine Gedanken:
Er glaubte, dass sie es auf die Rinde abgesehen hatte, die er mit
seiner Mutter und den Geschwistern bearbeitete. Obwohl die Leute lang
nicht mehr so intelligent wie ihre Vorfahren waren, vermochte
Erinnerung immer noch die Überzeugung und Absichten anderer zu
erkennen.
    Weiß-Flecks Rudel war heute jedoch geschwächt. Seit
Erinnerung sie zuletzt gesehen hatte, war ihr ältester Sohn
verschwunden. Er hatte sich vielleicht auf die Suche nach einer
anderen Kolonie gemacht, die irgendwo in den grünen Tiefen des
Walds hing. Oder vielleicht war er auch tot. In der Art und Weise,
wie sie über die Schulter ins Leere schauten und Platz für
ein großes Männchen ließen, das nie mehr kommen
würde, zeigten die Familienangehörigen, dass sie sich
über den Verlust eines der ihren sehr wohl im Klaren waren. Doch
bald würde die Erinnerung verblassen und der Bruder im Nebel der
Vergangenheit verschwinden, verloren wie alle Menschenkinder seit der
Errichtung des letzten Grabsteins.
    Erinnerung würde nie erfahren, was aus dem anderen Sohn
geworden war. Dies war kein Zeitalter der Information. Heute
tauschten die Leute sich nicht mehr aus. Sie wusste nur das mit
Sicherheit, was sie mit eigenen Augen sah.
    Trotzdem war das eine Gelegenheit für Erinnerung. Sie
hätte dieser geschwächten Gruppe wahrscheinlich einen Platz
auf ihrem Baumstamm abzutrotzen vermocht. Doch sie hatte schlecht
geschlafen und fühlte sich schwach und rastlos. Von dieser
Befindlichkeit wurde sie seit dem Verlust ihres Kindes geplagt. Der
Tod des Kindes lag nun schon über ein Jahr zurück, doch der
Schmerz war noch so frisch, und das Ereignis in ihrem
kaleidoskopartigen, unstrukturierten Bewusstsein noch so
präsent, als ob es erst gestern gewesen wäre. Wie all ihre
Artgenossen war Erinnerung kein Geschöpf

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