Ewig
leid. Das alles war zu viel für mich. Erst Pater Johannes, dann der Typ am Handy, der in mir rumgebohrt hat, und jetzt Berner und …«
Wagner setzte sich neben Sina auf den Boden und legte seinen Arm um ihn. Es wurde dunkel draußen. Lange saßen sie schweigend, und es war wie früher. Der Reporter wollte mehrmals etwas sagen, schüttelte aber immer wieder den Kopf und verwarf den Gedanken wieder. Schließlich murmelte er: »Nein, Georg. Es tut mir leid. Ich habe den Tag hunderte Male verflucht, an dem sich Clara hinter mich auf dieses Motorrad gesetzt hat. Ich habe dich immer wieder vor mir gesehen, wie du dagestanden bist, als sie aufgestiegen ist. Wie du dreingeschaut hast, so sorgenvoll und gar nicht begeistert. Ich hatte ja keine Ahnung, was wirklich in dir vorging. Niemals hätte ich dir Clara … Nicht einmal gedacht habe ich daran …«
Wagner erinnerte sich, wie schon so oft in den langen Nächten. »Ich wollte ja langsam fahren, aber da war das Motorrad, ihre Arme um meine Hüften, ihre Begeisterung … Und da habe ich ein bisschen mehr Gas gegeben und noch ein wenig mehr, wie immer … Ich bin die verdammte Strecke Dutzende Male zuvor gefahren, ich kannte sie auswendig … Alles war genau wie immer und dann war da plötzlich dieser Wagen, schoss aus der Nebenstraße, heraus auf die Hauptstraße, ohne zu bremsen, ohne nur einen Augenblick anzuhalten.«
Vor Sinas innerem Auge spielte sich der Unfall ab wie auf der Leinwand eines Kinos.
»Und bevor ich noch reagieren konnte, bin ich schon über den Asphalt gerutscht, das Motorrad trudelte vor mit her … An sich nichts Besonderes, es legt mich jedes Jahr mindestens einmal hin … Ich bin aufgestanden und wollte zu Clara gehen … Ihr sagen, was für ein Glück wir hatten … aber da habe ich sie gesehen. Wie sie dagelegen ist. Und ich habe es sofort gewusst …«, flüsterte Wagner und diese Gefühl der Leere breitete sich wie ein riesiges schwarzes Loch wieder in seinem Magen aus. Er stand auf und suchte nach der Weinflasche.
»Wo ist das Motorrad, Paul? Hast du es noch? Ich will es sehen!«, hörte er Georgs Stimme hinter sich. Wagner drehte sich nicht um, schüttelte nur den Kopf und sagte: »Ich habe es verschrotten lassen. Ich wollte es nicht mehr in meinem Leben haben.«
Sina nickte, unfähig, ein Wort hervorzubringen. Er hätte die Begegnung mit dem Fahrzeug gebraucht, um endlich einen Schlussstrich ziehen zu können, sich selbst begreifbar zu machen, dass alles nicht nur ein böser Traum, sondern Realität war. Er hatte Clara nicht mehr gesehen, nicht mehr so Abschied nehmen können, wie er es wollte. Das Letzte, was er von ihr gesehen hatte, war ein Sarg, aufgebahrt unter einem Meer von Blumen am Wiener Zentralfriedhof. Dann war sie in einem Schacht verschwunden, vergraben und vergessen. Zwischen den Bäumen der Allee, in einiger Entfernung, wie ein Häufchen Elend, war Paul Wagner gestanden. Aber Georg war nicht hingegangen, er wollte ihm nicht begegnen, nicht ihm, nicht dem Mörder. Aus den Augenwinkeln hatte er beobachtet, wie sein Vater ihm dann doch die Hand geschüttelt hatte, den Arm um seine Schultern gelegt und ihn weggeführt hatte. Nur weg mit ihm, fort aus meinem Leben, hatte Sina gedacht. Am nächsten Tag schon war er auf seiner Burg gewesen. Die Zugbrücke hoch, und Georg Sina war tot. Tot für die Welt und auf ewig aus ihr verschwunden, wie Clara.
Georg ging zum Küchenblock und Paul drückte ihm ein randvolles Glas in die Hand.
»Es ist gut«, hörte er Sina murmeln, »es ist gut.« Wagner und er blickten sich an. Sie brauchten keine Worte, um sich zu verstehen. Der Reporter öffnete den Mund, aber Sina schüttelte entschlossen den Kopf. »Es ist gut«, wiederholte er noch einmal.
»Sind wir wieder … noch immer … sind wir noch Freunde, Georg?«, fragte Wagner leise und zögernd.
»Wir waren nie wirklich verfeindet, Paul, oder keine Freunde. Das ist das wirklich Furchtbare daran«, raunte Sina und stürzte den Wein hinunter.
Allgemeines Krankenhaus, Wien/Österreich
K ommissar Berner lag auf dem Gang der geschlossenen Sicherheitsabteilung und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Ein Schlauch führte in seinen linken Arm, sein Kopf war dick verbunden und er kam sich vor wie ein reparaturbedürftiger Güterwagon, für den man nur noch das Abstellgleis suchte. Im Moment jedoch kümmerte sich niemand um ihn. Kaum war er in der Abteilung angekommen, war das komplette Chaos ausgebrochen. Man hatte entdeckt, dass
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