Ewige Nacht
Armaturenbrett, erhöhte die Geschwindigkeit und überholte den Geländewagen vor sich. Angeblich konnte man die Lichter der belgischen Autobahnen sogar vom Mond aus sehen. Sparte man nur deshalb nicht an Strom, weil das Land wegen der ertragreichen Uranproduktion im Kongo schon früh auf die Kernenergie gesetzt hatte?
Von hinten hängte sich ein Volvo direkt an seine Stoßstange. Timo brummte einen leisen Fluch und gab noch mehr Gas.
»Haben wir es so eilig?«, tönte es von der Rückbank.
Timo nahm den Fuß vom Pedal. »Nein. Ich habe mich bloß über den Stoßstangenküsser geärgert.«
Endlich kamen die ersten Hinweisschilder auf den Brüsseler Autobahnring.
»Wenn die Maschine landet, bevor wir am Flughafen sind, wird sie trotzdem auf uns warten«, sagte Aaro.
Timo hatte keine Lust einzuwenden, dass er sich nicht beeilte, um das Au-pair-Mädchen rechtzeitig abzuholen, sondern um bei TERA die aktuellen Neuigkeiten zu erfahren. Heidi Klötz war in Glauburg gefunden worden: Sie war haarscharf einer Kohlenmonoxidvergiftung entgangen und würde in Kürze nach Brüssel zurückkehren. Theo Denks Zimmer im Pflegeheim war durchsucht worden, und Timo wartete auf die Liste der darin enthaltenen Sachen. In ganz Deutschland war die Fahndung nach Ralf Denk und Noora Uusitalo intensiviert worden.
Timo setzte den Blinker, um in östlicher Richtung auf den Ring zu fahren, wo ein endloses Band roter Rücklichter auf drei Spuren vorankroch. In Richtung Antwerpen stand der Verkehr fast vollständig still.
»Musst du heute noch arbeiten?«, wollte Aaro wissen.
Timo wurde ganz kalt bei der Scharfsinnigkeit des Jungen. Er schien ihm die ganze Zeit einen Schritt voraus zu sein. Und dennoch war Aaro in vielerlei Hinsicht noch durch und durch ein Kind. Zum Glück. Kinder mussten kindlich sein dürfen. Das war heutzutage nicht leicht. Als Timo selbst noch ein Kind gewesen war, hatten die allwissenden Erwachsenen in ihrer eigenen Welt gelebt, in die Kinder nur selten einen Blick hineinwerfen durften. Jetzt lernten die Kinder auch durch das Fernsehen frühzeitig, wie Erwachsene miteinander umgingen, und sahen Menschen, die oft alles andere als vertrauenswürdig handelten. Sie waren umgeben von Männern und Frauen, die kaum fähig waren, für sich selbst zu sorgen, geschweige denn für ihre Kinder, die wiederum ständig mit den Problemen ihrer Eltern konfrontiert waren.
Kinder lebten heute in einem seltsamen Zwischenzustand. Dazu trug auch etwas ganz Banales bei, das die Autorität der Eltern untergrub: die moderne Technik. Vor dem digitalen Zeitalter hatten sich Väter den Respekt ihrer Söhne erworben, indem sie das Auto und die Haushaltsgeräte reparierten. Jetzt installierten die Söhne die Computer, regelten Zeittaktsteuerungen und beherrschten im Nu die neuesten Mobiltelefone. Den berufstätigen, dauergestressten Eltern fehlte die Energie, der lawinenartigen Entwicklung der Knöpfchentechnologie etwas entgegenzusetzen, und wenn sie die Hilfe der Kinder in Anspruc h nahmen, litt darunter eben ihre Autorität. Der eine oder andere Vater konnte wenigstens noch beim Fußball oder Eishockey mi thalten, Timo gehörte jedoch nicht dazu. Höchstens im Klettern hätte er Punkte machen können, aber dafür interessierte sich Aaro nun wieder überhaupt nicht.
»Du bist doch … vorsichtig?«, sprach Aaro auf der Rückbank leise weiter.
Die Frage und der Tonfall überraschten Timo. Er lachte auf, ohne seiner Stimme einen natürlichen Klang verleihen zu können. »Ich bin eher zu vorsichtig. Ziemlich großer Unterschied zu Mister Bond, was? Mach dir keine unnötigen Gedanken über solche Dinge.«
Er bog in Richtung Flughafen ab und biss sich auf die Lippe. Hinter dem gläsernen Gebäude von Sony stiegen die Lichter der startenden Maschinen auf. Timo begriff, dass ihm eine neue Situation bevorstand: Aaro kam in ein Alter, in dem er vieles besser verstand. Man konnte ihm nicht mehr alles Mögliche weismachen. Er musste bei Aaro einen klaren Kurs einschlagen: Er musste genau auswählen, worüber er mit ihm sprach, dies aber dann wahrheitsgemäß tun.
Plötzlich ein scharfer Ton, kurz und durchdringend, dabei sehr dünn. Timo kramte den Piepser aus der Tasche und warf einen kurzen Blick auf den Code der roten LED-Anzeige.
Die Nummer veranlasste ihn, noch einmal hinzuschauen. Er hatte richtig gesehen. 001.
001 bedeutete kritisch.
Nicht wichtig, nicht eilig, sondern kritisch.
»Was ist los?«, fragte Aaro.
Mit klopfendem Herzen
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