Ewige Nacht
ging auf das Bronzetor zu, auf den Eingang zum heiligsten Bezirk des Vatikan. Wie aus dem Nichts tauchte Noora neben ihm auf. In ihren schwarzen Kleidern sah sie etwas blass aus, aber auch schön und gefasst.
Er hatte ihr nur einen Bruchteil von dem erzählt, was kommen würde, und er war sicher, dass sie auch den Rest würde ertragen können.
Zwei Soldaten der Schweizer Garde in ihren albernen, bunten Uniformen aus dem 16. Jahrhundert, Kreationen von Michelangelo, standen neben der Tür.
»Wir haben in zehn Minuten eine Audienz«, sagte Ralf.
»Das Papstsekretariat. Den Gang nach rechts«, sagte der pfirsichhäutige Wächter mit einer Kopfbewegung in die entsprechende Richtung.
In der nächsten Nische standen zwei moderner gekleidete Wachleute, die sie durch einen Metalldetektor gehen ließen.
Sie folgten dem Gang in einen kühlen Raum mit Marmorboden, wo zwei Bedienstete hinter einem Holzschalter saßen.
»Mein Name ist Sebastian Kline«, sagte Ralf und legte eine Hand auf die glatt gewetzte Holzfläche. »Das hier ist Mia Fuchs. Wir haben …«
»Sie sind spät dran. Die Papiere.«
Ralf und Noora legten ihre Pässe sowie zwei rosa Formulare vor. Der sauertöpfisch wirkende Beamte sah sich alles genau an und nickte dann seinem Kollegen zu, der den Hörer von einem altmodischen Telefon nahm und einige Worte auf Italienisch sagte. Der erste Beamte trug etwas auf den rosa Formularen ein, stempelte sie und gab sie ihnen zurück.
»Zurück zum Bronzetor. Den Gang hinunter.«
Ohne einander anzublicken, befolgten Ralf und Noora schweigend die Anweisung. Am Ende des Ganges saß ein Soldat der Schweizer Garde, der sie mit einer kleinen Kopfbewegung passieren ließ. Nach der Scala Regia stiegen sie eine breite Marmortreppe hinauf. Oben wurden sie von einem Bediensteten in Empfang genommen. Er machte ein Kreuzchen auf seinem Clipboard, um ihre Ankunft zu verzeichnen, und führte sie in einen Vorraum, der mit elektrischen Kerzen erleuchtet war und in dem zwei weitere Diener warteten.
Aus dem Zimmer der Papst-Sekretäre kam ein Mann im Trägergewand heraus, den das Gewicht des Kruzifixes um seinen Hals zu beugen schien.
»Bitte warten Sie ein paar Minuten, Herr Kline und Fräulein Fuchs«, sagte der Sekretär und wies auf die Lehnstühle an der Wand. Daraufhin zog er sich wieder in sein Zimmer zurück.
Ralf nahm Platz. Es pochte in seinem Kopf. Er betrachtete das simple Besucherformular, das den Zugang zum einflussreichsten religiösen Führer der Welt eröffnete. Am oberen Rand stand Stato délia Città del Vaticano – Governatorato . Am unteren Rand befand sich das dreiteilige Wappen, das die Macht des Papstes im Himmel, auf der Erde und in der Hölle darstellte.
Ralf merkte, dass sich die Bediensteten entfernt hatten. Er war mit Noora allein im Raum. Noch immer sahen sie sich nicht an. Es wäre natürlicher gewesen, sich zu unterhalten, aber das schien unmöglich. Andererseits gab es wohl keinen Besucher, der nicht aufgeregt in diesem Raum saß.
Ralfs Telefon piepste gedämpft, zum Zeichen, dass eine SMS angekommen war. Mit schnellen, beunruhigten Bewegungen nahm er das Gerät aus der Tasche und las die Mitteilung von Tobias: »A . N ORTAMO, R UE W ASHINGTON 81.«
Ralf antwortete nicht, sondern steckte das Telefon zufrieden wieder ein. Die Adresse des Jungen hatten sie. Sollte die Lage bedrohlich werden, würde er Tobias den Befehl zum Handeln erteilen.
Die Tür zum Zimmer des Sekretärs war nur angelehnt, aber es war kein Laut zu hören. Der Marmorboden glänzte matt. Auf einem kleinen Tisch standen frische Blumen, daneben lagen die neuesten Ausgaben von ›Osservatore Romano‹ und ›Radio Vaticana‹. In der Luft lag der starke Duft von Bienenwachs. Ralf schloss die Augen.
Alles erinnerte ihn an seine Kindheit: die Atmosphäre, die Gerüche, die Bilder. Er schob einen Finger in den Kragen und lockerte ihn. Dann musste er an Giordano Bruno denken, der mit gefesselten Händen auf die Flammen des Scheiterhaufens warten musste. Die Kirche hatte ihm die Gelegenheit gegeben, seine Ansichten zu ändern, aber Bruno ließ sich lieber verbrennen.
Nur Asche war von dem Mann übrig geblieben, seine Bücher und Gedanken jedoch hatten Bestand. Ralfs größter Schatz war ein Faksimilie aus dem Jahr 1902 von ›De la causa, principo et uno‹, das Bruno nach 1580 verfasst hatte.
Ein Satz aus diesem Werk bildete das Fundament für Ralfs Mission. Ein Satz, der in all seiner Entsetzlichkeit und all seiner Schönheit
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