Ewige Nacht
auf.
»Aiuto! Aiuto in nome del Signore!«, klagte mit herzzerreißender Stimme eine schwarz gekleidete alte Bettlerin, auf einen Stock gestützt.
Ralf ging hinter einer stark parfümierten spanischen Touristengruppe hinein und durchschritt die Sicherheitsschleuse. Den Alarm erklärte er, indem er sein Handy vorzeigte, worauf der Beamte mit dem tragbaren Metalldetektor winkte.
Der Gegenstand in seiner Brusttasche löste keinen Alarm aus. Und selbst wenn, wäre ihm nicht mehr Beachtung geschenkt worden als einem Füller.
Ralf passierte den Museumsladen, fuhr über mehrere Rolltreppen zum Kartenschalter hinauf und zahlte den Eintritt mit einem Zehn-Euro-Schein. Er folgte nicht der farbig markierten Route, sondern ging zielstrebig in den heißen Innenhof, um von dort in die Bibliothek zu gelangen. Das Plätschern der Wasserfontäne kühlte seine Gedanken. Ein riesiger Pinienzapfen aus Bronze war auf dem majestätischen Platz oben auf dem Springbrunnen zwischen zwei Pfauenskulpturen aufgestellt worden.
Ralf betrat die Bibliothek des Vatikans und blickte sich erwartungsvoll um. Ein Fresko bedeckte die eine Wand des Lesesaals: ›Die Aldobrandinische Hochzeit‹ Hinter dem Schalter saß ein kahlköpfiger Monsignor in Soutane.
»Buona sera«, sagte Ralf. »Sprechen Sie Englisch?«
Der Monsignore nickte kaum wahrnehmbar.
»Haben Sie die Protokolle vom Prozess gegen Giordano Bruno?«
»Verzeihung?« Der Monsignore legte die Hand hinter das Ohr. »Gegen wen?«
»Giordano Bruno. Ihr habt ihn am 17. Februar des Jahres 1600 auf dem Campo dei Fiori verbrannt.«
Ralfs ruhige Stimme hallte in dem Raum wider. Giordano Bruno war stets sein großes Vorbild gewesen. Mutig hatte der außergewöhnliche und umstrittene Philosoph neue Gedanken vorgetragen und war darum von der katholischen Kirche für einen Ketzer gehalten worden. Die letzten acht Lebensjahre hatte Bruno im päpstlichen Kerker verbracht, wo er immer wieder verhört und gefoltert wurde. Als man ihn schließlich zum Verbrennen auf dem Scheiterhaufen verurteilte, erwiderte er: »Vielleicht habt Ihr, die Ihr mein Urteil verkündet, mehr Angst als ich, der es entgegennimmt.«
Ralf sah den Zorn in den Augen des Monsignores aufblitzen. »Die Protokolle über Bruno haben wir nicht.«
Ralf wusste das. Die Kirche hatte sämtliches Material über Bruno vernichtet.
»Wir schließen in fünf Minuten.«
Ohne ein Wort wandte sich Ralf ab. Immer noch lauerte die rauschende Stille in ihm, bereit, jeden Moment hervorzubrechen. Er ging zur Sixtinischen Kapelle, wo sich nur noch eine Hand voll Touristen aufhielt.
Draußen begannen die Glocken zu läuten. Er neigte den Kopf, um die Schöpfungsgeschichte auf Michelangelos Fresko zu suchen. Das Licht wurde von der Dunkelheit geschieden, Sonne, Mond und Sterne geschaffen. Ralfs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Die Erschaffung des Menschen.
Sein Puls ging schneller. Die Glocken dröhnten jetzt in seinem Kopf.
Er senkte den Blick, von der Decke zur Wand.
Das Jüngste Gericht.
Langsam, wie hypnotisiert, trat er näher. Das Wandgemälde war auf eine schräge Oberfläche gemalt worden, damit der Staub nicht auf den Figuren haften blieb. Ralfs Pupillen weiteten sich. Der düster dreinblickende Fährmann über den Styx leitete die Toten auf sein Schiff. Die Verdammten wurden in unermessliche Finsternis geführt, ins Verderben.
Der Lohn der Sünde. Die Hölle.
Die ewige Nacht.
Die leidenden Menschenleiber, die sich in den Tiefen des Hades wanden, ließen Ralf erschauern. Er hob den Blick zum Mittelpunkt des riesigen Freskos, wo mit erhobener Hand und von einem Lichtkranz umgeben eine stolze Gestalt stand. Zu Füßen des muskulösen Jesus trug mühsam der Märtyrer Bartholomäus an einer Haut ohne Muskeln und Knochen: die leere Hülle eines Menschen. Das war ein Selbstporträt des Michelangelo, aber Ralf sah darin sich selbst.
Er tastete nach dem Stift in seiner Brusttasche.
»Avanti, prego!«, sagte ein Aufseher in blauer Uniform an der Tür und klimperte mit seinen Schlüsseln. Sie wollten absperren.
Ohne einen Gedanken fassen zu können, ging Ralf nach draußen und folgte der Mauer zum Petersplatz zurück, den die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten. Er blickte auf die Uhr und holte tief Atem. Dann nahm er sein Telefon zur Hand, stellte den Klingelton auf lautlos, ließ aber das Signal für Textmitteilungen an. Das war aus Sicherheitsgründen wichtig.
Er riss sich zusammen, drückte den Rücken durch und
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