Ewige Nacht
Einrichtung. Bei seinen Schulkameraden zu Hause war es moderner: Ikea, PlayStation 2, Breitbildfernseher. Sein Vater dagegen guckte sich vollkommen zufrieden uralte Filme in einem erbärmlichen tragbaren Fernseher an, der nicht mal Stereoton hatte. Wie sollte man einem Menschen den Effekt von Dolby Digital 5.1 erklären, der nicht mal ein Farbbild vermisste?
Es wurmte Aaro, dass er so selten zu seinen Freunden kam, am ehesten noch mittwochs, wenn sie einen kurzen Schultag hatten. Trotz allem gefiel es ihm gut in Brüssel. Es war eine spannende und geheimnisvolle Stadt. Und sogar die Schule hatte eine gute Seite: Es gab wenig Sport. Aaro mochte Sport, aber nur als Objekt für Wetten und wenn er nicht selbst mitmachen musste.
Seine Mutter und sein Vater versuchten sich zum Ausgleich für ihren stressigen Alltag schöne gemeinsame Unternehmungen an den Wochenenden auszudenken. Für seinen Vater war es das Größte, über den Flohmarkt unterhalb des Justizpalasts und durch die Straßen mit den Antiquitätenläden zu wandern. Das war auch Aaro nicht immer unangenehm, denn sein Vater konnte wunderbar über Straßen und Häuser und die Herkunft von Gegenständen erzählen, und manchmal waren seine Geschichten echt interessant. Einmal hatte er erzählt, dass in ihrem Haus während der Besatzung durch die Nazis ein Versteck der Widerstandsbewegung, die Juden geholfen hatte, gewesen sei. Allerdings hatte Aaro den Verdacht, dass sich sein Vater das nur ausgedacht hatte, um unter diesem Vorwand über die Ereignisse von damals zu sprechen.
Die Kriegszeit war aber nicht so spannend wie das Mittelalter. Sein Vater hatte ihm die Steinmetzarbeiten an den Kapitellen des Rathauses auf der Grand’ Place gezeigt: zechende Mönche und eine Art Wippe, ein Folterinstrument, an dem das Opfer an einem Strick hing und in Schlamm getaucht wurde. Die Gewalt in Filmen, die sein Vater so verabscheute, war nicht mehr als das Gerangel von Sonntagsschülern im Vergleich zu dem, was im Mittelalter an der Tagesordnung gewesen war. Die Geschichte die sein Vater über die Hinrichtung von Graf Egmont auf der Grand Place erzählte, hätte seiner eigenen Logik nach erst ab se chzehn sein dürfen. Noch schlimmer waren alte Gemälde. Auf Rubens’ ›Der Märtyrertod des heiligen Livinius‹ hätte ein Zettel mit der Aufschrift »ab zwölf« stehen müssen, weil auf dem Bild der Schacher mit dem Kardinalshut dem Bischof die Zunge mit einer Zange herausreißt.
Sein Vater wusste schrecklich viel über die sonderbarsten Dinge, aber über das, was Aaro am allermeisten hören wollte, ließ er kein Wort verlauten: über seine Arbeit. Das war seltsam und irgendwie auch beängstigend. Sogar seine Mutter wusste darüber so gut wie nichts, oder aber sie war eine glänzende Schauspielerin. Aber nein, das war sie ganz und gar nicht. Bei ihr brauchte man keinen Lügendetektor, sie wurde sofort rot, wenn sie versuchte, einem etwas vorzumachen. Deshalb funktionierte das auch nie. Aaro war zufrieden, dass er in dieser Hinsicht nicht wie seine Mutter war. Er konnte lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Trotzdem sagte er komischerweise hinterher immer, oder wenigstens fast immer, die Wahrheit. Auf das Lügen folgte nämlich – so viel hatte er inzwischen kapiert – jedes Mal eine Form der Strafe: ein Schnupfen, verlorenes Geld beim Wetten oder eine Blamage vor der Klasse. Bisher hatte er einfach keine gute Erfahrungen damit gemacht.
»Schrecklich viele Bücher«, sagte Reija angesichts des Regals, das eine ganze Wand einnahm. Davor stand eine Stehleiter aus Aluminium, weil der Raum hoch war und das Regal bis zur Decke ging. Aus irgendeinem Grund standen die interessantesten Bücher immer ganz oben.
»Hey, da sind ja echt gute Filme dabei«, sagte Reija beim Blick auf die Museums-VHS-Bänder seines Vaters. »›To Have and Have not‹, ›Rio Bravo‹ und was nicht noch alles …«
Verdutzt registrierte Aaro Reijas Begeisterung. Wie konnte eine so junge Frau einen dermaßen kalkhaltigen Filmgeschmack haben?
Da klingelte das Festnetztelefon auf dem Beistelltisch. Aaro zuckte bei dem antiken Läuten zusammen, er stand auf und nahm den Hörer ab.
»Mama hier. Seid ihr angekommen? I c h hab mir schon Sorgen gemacht. Ist alles in Ordnung in der Wohnung?«
»Ja, ja. Außer in der Küche. Ungespültes Geschirr, teilweise verschimmelt.«
»Gib mir mal deinen Vater.«
»Der arbeitet.«
»Arbeitet? Jetzt?«
»Reija und ich sind mit dem Taxi vom Flughafen gekommen. Aber
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