Ewige Nacht
Leiter der Anti-Terror-Einheit bei der britischen Sicherheitspolizei war äußerlich das Gegenteil von Timo: ein kleiner, knochiger Schotte.
»Ich weiß gar nichts. Ich wurde alarmiert, als ich in Zaventem war.«
»Komm mit.« Wilson drehte sich um und ging zu seinem Büro am Ende des Flurs.
Timo folgte seinem Vorgesetzten mit wachsendem Erstaunen. Selten begegnete man Menschen, die eine so natürliche Autorität ausstrahlten wie Wilson. Er war ungekünstelt, gerecht und verlässlich – ein Mann, der in den schlimmsten IRA-Zeiten ein paar Dinge gesehen hatte, von denen in den Geschichtsbüchern nie die Rede war.
Wilson ließ Timo eintreten und schloss die Tür.
»Eine russische Kernladung ist verschwunden«, sagte er, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte. »Und diesmal stimmt es tatsächlich.«
Timo sank auf einen Stuhl. Die größte Befürchtung aller Sicherheitsbehörden, besonders seit dem 11. September, war Wirklichkeit geworden. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, und jetzt war es also so weit.
Wenn Terroristen in irgendeiner Stadt eine Kernladung explodieren ließen, bedeutete das nicht nur die Zerstörung von Gebäuden und im schlimmsten Fall die Vernichtung von Menschenleben. Es bedeutete auch das Ende der Demokratie.
»GUMO bestätigt, dass ein Offizier namens Andrej Orlow einen Sprengsatz an Unbekannte weitergegeben hat. Die Leichen von Orlow und seiner Mutter sind in einem Wald nordwestlich von Sankt Petersburg gefunden worden.«
Das zwölfte Direktorat des russischen Verteidigungsministeriums – Glawnoye Uprawleniye Ministerstwo Oborony , kurz GUMO – war zuständig für die Sicherheit und Lagerung von Atomwaffen. Und der Fundort der Leichen erklärte, warum Wilson bei aller Eile ausgerechnet mit Timo sprechen wollte.
Timo räusperte sich. »Um was für einen Sprengsatz handelt es sich?«
»Wir fürchten, es ist eine SADM.«
Timo erschrak. Innerhalb der Sicherheitsdienste war kein berüchtigteres Kürzel bekannt als SADM. Die Special Atomic Demolition Munition bezeichnete eine kleine taktische Kernladung, die für den Einsatz von Spezialeinheiten hergestellt worden war.
»FSB und GUMO untersuchen die Angelegenheit gemeinsam, aber Informationen sind schwer zu bekommen.« Wilson sprach leise, aber sein Blick tanzte unruhiger als sonst von Timos Gesicht zur Wanduhr, von dort auf den Ordner, der auf dem Schreibtisch lag, und schließlich auf das Telefon, aus dem sich jeden Moment der Druck der EU-Führung und aus Washington mit aller Kraft entladen würden.
Für genau solche Situationen war TERA gegründet worden. Und sie sollte in der Lage sein, eine solche Katastrophe zusammen mit den Sicherheitsdiensten der Mitgliedsstaaten zu verhindern.
»Du hast doch Beziehungen zur FSB in Sankt Petersburg«, fuhr Wilson fort. »Nimm Kontakt mit ihnen auf und versuch, etwas herauszubekommen. Falls nötig, fährst du hin.«
Timo nickte, obwohl er am liebsten heftig den Kopf geschüttelt hätte. Vor dreieinhalb Jahren war er aus Sankt Petersburg weggegangen. Seitdem hatten die Männer dort gewechselt. Die Wirklichkeit entsprach in diesem Fall nicht den Hoffnungen, in keiner Hinsicht.
»Was wissen wir?«, fragte Timo. »Wie hat die FSB davon erfahren?«
»Laut GUMO hat Major Andrej Orlow die Ladung weitergegeben, aber die zentrale Figur war seine Mutter. Swetlana Orlowa arbeitete aktiv in einer Umweltorganisation, die sich dafür einsetzt, die Halbinsel Kola von Atommaterial zu reinigen. Die Frau hat einem anderen Mitglied der Organisation verraten, dass zwei Vertreter einer deutschen Schwesterorganisation eine echte Kernladung mit der Videokamera aufnehmen wollten. Mit diesem Mediencoup sollte der Westen darauf aufmerksam gemacht werden, wie nachlässig Russland bei der Lagerung seiner Atomwaffen verfährt. Aber wie es aussieht, haben die Deutschen die Ladung an sich genommen, anstatt sie zu filmen, und die Russen umgebracht. Möglicherweise ist der SADM-Sprengsatz aus Russland herausgeschafft und über Finnland irgendwohin transportiert worden. Die finnische Grenze liegt am nächsten.«
»Aber die Grenze wird wesentlich genauer kontrolliert als die Grenzen zu Russlands südlichen Nachbarn«, sagte Timo.
»Setz dich mit den finnischen Stellen in Verbindung, die in der Lage sind, die Sache zu klären. Die Amerikaner gehen die Wände hoch, die NSWG hat schon eine Krisensitzung einberufen. Sie werden ihre eigenen Leute herschicken, zu unserer Unterstützung.«
Timo nickte und stand
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