Ewige Nacht
den Einheimischen. Wenn sie sie nicht freiwillig hergaben, erschoss er sie oder nahm Frauen aus den Dörfern als Geiseln. In seinen Büchern bezeichnete Stanley dieses Vorgehen als Jagd. Ein Mitglied seiner Expedition packte den abgeschnittenen Kopf eines Kongolesen in eine Kiste mit Salz und schickte ihn zum Ausstopfen nach London, wo die Trophäe anschließend auf einer Halterung befestigt und ausgestellt wurde.
Man begegnete den Einheimischen aber nicht nur mit Waffengewalt, sondern auch mit Heimtücke. Stanleys weiße Helfer versteckten Batterien, die sie aus London mitgebracht hatten, unter ihren Kleidern und verbanden sie über Kabel mit ihren Händen. Wenn sie einen Afrikaner begrüßten, bekam der einen Stromschlag und staunte über die Energie des weißen Mannes.
Leopolds lange gehegter Traum ging 1885 in Erfüllung, als er sich zum 50. Geburtstag mit einer eigenen Kolonie beschenken durfte. Und mit was für einer! Sie war größer als Frankreich, England, Deutschland, Spanien und Italien zusammen und entschädigte ihn mehrfach für die Winzigkeit Belgiens. Leopold riss sich dort alles unter den Nagel, was das Land hergab, von den Stoßzähnen der Elefanten bis zu den Rüben, die von den Einheimischen angebaut wurden und nun den Söldnern als Nahrung dienten.
Dem neuen Staat in seinem Privatbesitz gab Leopold den Namen Etat Indépendant du Congo , Freistaat Kongo. Das war grotesk, denn eine kleine Gruppe Weißer herrschte über fast 20 Millionen Afrikaner. Zu den effektivsten Verbündeten Leopolds zählte die katholische Kirche mit ihren Missionaren: Bei der Übernahme des Kongo stützte man sich auf die Macht der Gewehre und der Bibel. Leopold unterstützte die Missionare finanziell und setzte Pfarrer wie Soldaten ein, indem er sie in jene Gebiete entsandte, in denen er seine Macht festigen wollte. Seine Söldner-Armee Force Publique und die Missionsstationen bildeten zusammen ein anwachsendes, blutiges Perpetuum mobile: Von den Opfern der Soldaten blieb eine enorme Anzahl Waisenkinder zurück, aus denen die Missionare in ihren Waisenhäusern neue Soldaten für die Force Publique machten.
Timo musste wieder an den Papst und an Theo Denks Voodoo-Puppe denken. Auch der Zufall hatte seine Grenzen.
Er parkte den Wagen in der Nähe der TERA. Der Abend war warm, geradezu schwül. Timo beeilte sich, zu seinem Arbeitsplatz zu kommen, versuchte, mit Wilson zu sprechen, aber der war beschäftigt.
»Nur zwei Minuten«, sagte Timo zu Wilsons Sekretärin, die ihn schließlich doch ins Büro seines Vorgesetzten ließ.
»Was ist mit diesem Mwanga?«, fragte Wilson.
»Ich bin mir noch nicht sicher«, antwortete Timo leise, den Blick fest auf Wilson gerichtet. »Aber ich werde es mir anschauen.«
»Du fährst in den Kongo?«
»Dort liegt der Schlüssel zu allem.«
Wilson knipste mit seinem Kugelschreiber. »Wir könnten jemanden auftreiben, der näher dran ist . MI6 hat Leute da unten, die Franzosen auch …«
Timo schüttelte den Kopf. »Sie kennen den Fall nicht. Kann mir TERA ein Schnellvisum beschaffen?«
»Sprich mit Picard. Du brauchst ein Impfzeugnis. Und mit der Malariaprophylaxe muss man zwei Wochen im Voraus anfangen.«
Nach der Unterredung rief Timo Doktor Leclerq an, einen der Ärzte, die der Einheit zur Verfügung standen, und suchte nach Léon Picard, der vom belgischen Geheimdienst SE zur TERA gekommen war. Dieser Sûreté de l’État hatte reichlich Erfahrung mit dem Kongo und seinen Einwohnern. Das galt auch für den kleinen Wallonen, der Timo immer an einen Terrier mit dem Naturell eines Deutschen Schäferhundes erinnerte. Diese Asymmetrie sorgte für eine Spannung, die Timo stets auf der Hut sein ließ.
»Du kapierst nicht, was du da tust«, sagte Picard in seinem verrauchten Büro, in dem eine noch größere Unordnung herrschte als bei Timo. Picard gestikulierte beim Sprechen, er hatte dunkle Augenringe und die Haut eines Kettenrauchers.
»Weißt du, was man im Kongo vor den Kerzen zur Beleuchtung benutzt hat?«, fragte Picard, zog an seiner Zigarette und fuhr trocken fort: »Strom. Seit wir nicht mehr da sind, herrscht im Kongo Chaos. Seit 1960.«
Timo wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, unterschiedliche Ansichten über das Verhältnis zwischen Belgiern und Kongolesen auszutauschen. Doch offenbar verriet sein Gesichtsausdruck etwas, denn Picard fügte hinzu:
»Ich weiß noch, was du einmal über den Kongo gesagt hast. Aber vergiss nicht, dass die Kongolesen schon
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