Ewige Nacht
dankbar sein sollte.
32
Aaro kam mit seinem neuen Rucksack und einem Filzstift aus seinem Zimmer, als das Telefon klingelte.
»Aaro«, meldete er sich, aber niemand antwortete. »Hallo?«, fragte er nach.
Am anderen Ende der Leitung wurde aufgelegt. Es tutete nur noch.
Aaro legte den Hörer auf die Gabel. Hatte sich jemand verwählt? Wahrscheinlich, dachte er, wunderte sich aber, dass der Anrufer gar nichts gesagt hatte.
Reija verließ ihren Platz vor dem Fernseher und kam mit einem leeren Schälchen in der Hand in die Küche. »Wer war das?«
»Niemand.«
»Was macht dein Vater eigentlich? Hat ziemlich unregelmäßige Arbeitszeiten.« Sie stellte das Schüsselchen zu dem anderen schmutzigen Geschirr auf die Spüle.
»Hab ich doch schon gesagt. Das ist geheim.«
»Warum das denn?«
»Darum halt. Geheim eben.«
»Weißt du es auch nicht?«
»Natürlich weiß ich es. Aber ich darf nicht drüber reden.« Aaro schrieb mit dem Filzstift seinen Namen auf den Rucksack.
»Er ist gar kein normaler EU-Bürokrat?«
»Alles andere als das.«
»Was hat er denn in Finnland gemacht?«
»War bei der SiPo und bei der KRP.«
»Verarsch mich nicht.«
»Guck doch im Web nach. Kannst ja seinen Namen mal mit ›Petersburg‹ kombiniert eingeben.«
»Wieso Petersburg?«
»Mein Vater war da vier Jahre als Sonderexperte. Kann man das lesen?« Aaro zeigte, was er auf den Rucksack geschrieben hatte: Aaro Nortamo.
»Kann man. Warum ist die Abkürzung für deine Klasse eigentlich so kompliziert?«
»In jeder der sechs Sprachabteilungen gibt es mindestens eine aKlasse, und bei einigen außerdem b und c.«
»Und in welcher Sprache unterrichten die Lehrer?«
»Unterrichtet wird in der jeweiligen Muttersprache, aber jeden Tag hat man seine erste Fremdsprache. In der Oberstufe findet ein Teil des Unterrichts dann auf Französisch oder Englisch statt.«
»Und du hast Französisch?«
Aaro schüttelte den Kopf. »Ich hab Englisch genommen, weil ich es schon konnte. Die ersten beiden Schuljahre war ich auf der internationalen Schule in Genf, weil meine Mutter dort beim CERN arbeitet.«
»Und was macht sie da so?«
»Erforscht Elementarteilchen. Und baut Grid auf, ein riesiges Computernetzwerk. Rate mal, was für eine Datenmenge damit verarbeitet werden kann? Eine Million Gigabytes.«
Aaro wartete umsonst, dass Rejia sich beeindruckt zeigte. »Kapierst du? Das entspricht der Information von anderthalb Millionen CD-Roms …«, legte Aaro nach.
Dann hörte er das Schloss an der Wohnungstür. Er sprang auf und rannte in den Flur. Sein Vater zog schwerfällig die Jacke aus, er war blass und wirkte entsetzlich müde.
»Wie läuft’s bei euch?«, fragte Timo mit aufgesetzter Munterkeit.
»Besser als bei dir«, sagte Aaro und schaute seinen Vater forschend an.
»Ich hab mich ein bisschen an der Seite verletzt.«
Reija hatte eilig angefangen, das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, unterbrach ihre Tätigkeit aber, als Timo in der Tür erschien.
»Wie ist das denn passiert?«, wollte Aaro wissen.
»Ich bin gestürzt … Hat Aaro nicht gesagt, dass man die nicht in die Maschine tun darf? Die Griffe sind aus Elfenbein.« Timo nahm zwei alte Messer und eine Gabel, die er auf dem Flohmarkt im Marolles-Viertel gekauft hatte, aus dem Besteckkorb.
»Wo gestürzt? Auf der Straße?«
»Die hätte ich vielleicht gar nicht kaufen sollen«, sagte Timo mehr zu sich selbst und nahm sich einen Teller aus dem Schrank. »Elfenbein hat so viel Unheil auf der Welt angerichtet. Ende des 19. Jahrhunderts war es ein Spitzenrohstoff. Das Plastik der damaligen Zeit …«
Er setzte sich an den Tisch und schüttete sich etwas von den gezuckerten Schokoknusperflocken, die wie von selbst aus dem Supermarkt aufgetaucht waren, in den Teller. Er bemerkte Aaros durchdringenden Blick, der immer wieder die Stelle mit der Verletzung suchte. »Aus Elfenbein wurden künstliche Zähne hergestellt, Klaviertasten, Kämme, Billardkugeln, Schnupftabakdosen …«
Aaro verschwand in sein Zimmer und Reija vor den Fernseher. Timo löffelte seinen Teller leer und ging zu Aaro.
»Ich würde mir gern deine Lampe ausleihen«, sagte er. »Die du zu Weihnachten bekommen hast.«
»Wozu?«
»Ist der Schulrucksack gepackt?«
Aaro antwortete nicht.
Timo nahm die kleine, starke Maglite-Lampe vom Regal und überprüfte, ob sie funktionierte. Da fiel sein Blick auf ein Comic-Heft: ›Tintin au Congo‹. Das hatte Timo damals den Geschmack an ›Tim
Weitere Kostenlose Bücher