Ewige Nacht
Sklaverei und Kannibalismus praktiziert hatten, bevor wir dort hingekommen sind. Und du weißt doch, wo die Weißen in Afrika ihre Sklaven gekauft haben? Von den Stammeshäuptlingen.«
»Könnten wir zur Sache kommen? Wie gehe ich am besten vor?«
Nach ein paar Telefonaten fuhren Timo und Picard in dessen kleinem, verbeultem Renault an den Modeboutiquen in der Avenue Louise vorbei nach Matonge, ins kongolesische Viertel von Brüssel, wo Picard einen Mann kannte, den er Jagger nannte. Im Lauf der Jahrzehnte hatten dort 15000 Leute aus dem Kongo mitten in der Stadt ihr Heimatland nachgebaut, genauer gesagt die Hauptstadt Kinshasa, deren lebhaftester Teil Matonge den Namen gegeben hatte. Die ehemalige Elite des Kongo hingegen, die Helfershelfer Mobutus, wohnten in Häusern mit Marmorboden in Rhode-Saint-Genèse und Uccle, wenige Kilometer entfernt.
»Jagger lernte ich kennen, als ich bei der Kongo-Gruppe der Polizei arbeitete«, sagte Picard, während er sich ins absolute Halteverbot vor einer Einfahrt stellte. Nur der Stil der Gebäude ringsum verriet, dass man sich noch in Brüssel befand. »Es sagt doch viel über den Charakter der Kongolesen, dass wir nur für sie eine Sonderkommission bilden mussten, obwohl es in der Stadt wesentlich mehr Marokkaner und Türken gibt.«
Und was hat dafür gesorgt, dass sich der Charakter der Kongolesen in diese Richtung entwickelt hat?, hätte Timo am liebsten gefragt. Vielleicht die Chicotte – jene aus Streifen von sonnengetrocknetem Flusspferdleder gemachte Peitsche. Ein einziger Hieb damit war bereits äußerst schmerzvoll, zehn waren die Hölle, und ab zwanzig verlor man das Bewusstsein. Sieben-bis achtjährigen Kindern, die in Anwesenheit eines weißen Mannes lachten, wurden fünfzig Schläge verabreicht – in zwei Raten, denn sonst wäre das Opfer gestorben und die Strafe wirkungslos gewesen.
Timo versuchte, dem flinken Picard zu folgen. Alle anderen Menschen in dem Stadtviertel, das sich auf die Nacht vorbereitete, schienen Kongolesen zu sein. Jedes zweite Lädchen war ein Friseurgeschäft mit Perücken und Haarteilen und Preislisten in der Lingala-Sprache im Schaufenster.
Timo war ein paar Mal in der Gegend gewesen und hatte in einem voll gestopften Kellerladen eine kleine Holzskulptur gekauft. Die Afrikaner verzerrten auf faszinierende Weise die Körperproportionen. Solche Skulpturen hatten Matisse und Picasso als Quelle der Inspiration gedient. Picasso hatte sie in seinem Atelier stehen. Nur für die Europäer war der Kubismus etwas Neues gewesen. Ebenso wie die Skulptur selbst bewunderte Timo das Geschick der Afrikaner, Gegenstände so zu bearbeiten, dass sie echt antik aussahen. Was in den Galerien von Brüssel und Paris als teure objets d’art verkauft wurde, war in Wirklichkeit Serienproduktion.
»Hier kann man alles kaufen«, sagte Picard. »Gefälschte Schecks, gestohlene Autos, Jungfrauen, Drogen, Luxusklamotten, die in der Louise geklaut worden sind, gefälschte Visa. Und echte Visa. Angeblich sehen ja alle Schwarzen in den Augen weißer Beamter gleich aus. Wenn einer Papiere hat, leiht er sie seinen Freunden, die hierher kommen wollen. Wenn man knapp bei Kasse ist, verkauft man die Papiere weiter.«
»Ich möchte am liebsten ein echtes Visum.« Timo hielt sich nicht für einen Abenteurer, und die Vorstellung, in den Kongo zu reisen, gefiel ihm ohnehin nicht sonderlich.
»Schauen wir mal, was Jagger tun kann.«
Während sie sprachen, wichen sie entgegenkommenden Passanten aus und machten einen Bogen um die Kisten der Gemüsehändler mit Süßkartoffeln, Stücken von Zuckerrohr, ungewöhnlich hellen Auberginen, leuchtenden Chilis. In den Fenstern der Cafés hingen die Titelseiten von Zeitungen aus dem Kongo aus: ›Le Palmarès‹, ›Le Phare‹, ›Le Soft‹. Auf den grobkörnigen Bildern sah man schwarze Soldaten in Kampfanzügen und mit Patronengürteln, die Ärmel hochgekrempelt. Aus dem Innern der Cafés drang lebhaftes, exotisches Stimmengewirr.
»Hier wird unermüdlich über Politik geredet, aber niemand ist bereit, etwas zu tun, damit sich die Lage bessert, egal ob Mobutu oder irgendeine andere Militärclique an der Macht ist«, sagte Picard mit verächtlichem Unterton. »Die Kongolesen besitzen kein kollektives Nationalgefühl.«
Timo lag die Bemerkung auf der Zunge, dass die Belgier Ende des 19. Jahrhunderts die fehlende Initiative der Kongolesen nicht vermisst hatten, als sie das Land systematisch um seine Naturschätze
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