Ewige Nacht
O’Briens Hartnäckigkeit das Nutzungsrecht dafür erhalten. Die Karte zeigte das Mwanga-Gebiet, war aber ebenfalls nicht sonderlich exakt.
Timo packte die Karten und die übrigen Sachen, die er brauchte, in seinen Flugkoffer. Anschließend suchte er im Regal nach dem Buch ›Schatten über dem Kongo‹, das er sich zwei Jahre zuvor gekauft hatte. Dabei fiel sein Blick auf eine VHS-Hülle mit der sorgfältigen Beschriftung ›Casablanca‹. Gern hätte er sich Ingrid Bergman angeschaut und die Welt um sich herum für neunzig Minuten ausgeschlossen, aber er musste schlafen.
Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Ein Knäuel dunkler Gedanken kreiste in seinem Kopf. Immer wieder sah er das Stilett vor sich aufblitzen. Die Klinge näherte sich seiner Kehle, auf einmal konnte er nicht mehr dagegenhalten, und die Klinge färbte sich rot. Mit aller Kraft packte Timo die Hand mit dem Messer.
»Au … Lass mich los!«, drang es in sein Bewusstsein.
Timo fuhr aus dem Schlaf hoch.
»Das tut weh«, stöhnte Aaro, bevor Timo dessen Handgelenk endlich losließ.
»Was schleichst du dich hier rein?« Timo sprach atemlos, seine Stimme war vom Alptraum ganz belegt.
»Ich wollte mir deine Wunde ansehen … Wenn man hinfällt, wird man normalerweise nicht so verpflastert. Falls man nicht zufällig auf ein Messer fällt.«
Timo zog Aaro zu sich unter die Decke und flüsterte ihm ins Ohr: »Versuch nicht, zu clever zu sein … Komm, und jetzt lass uns schlafen.«
Aaro schwieg. Als er auf die Welt kam, hatte Timo es für selbstverständlich gehalten, dem Jungen zu geben, was ihm selbst durch die Abwesenheit seines Vaters gefehlt hatte. Aber das war nicht einfach. Timo konnte sichere Entscheidungen treffen, wenn es um Fragen ging wie Diesel oder Benzin, Wintergrip oder Spikes. Als Experten für Kindererziehung hätte er sich jedoch nie bezeichnet.
Wie es ihrer Forschernatur entsprach, hatte Soile nach Aaros Geburt regalmeterweise Ratgeber über Kinderpflege und -erziehung angeschafft. Timo hatte einen Blick hineingeworfen und festgestellt, dass sie auch bloß mit gesundem Menschenverstand geschrieben worden waren. Im Lauf der Jahre hatte er am eigenen Leib erfahren, dass nichts leichter war, als in Erziehungsfragen Ratschläge zu erteilen, aber nichts schwerer, als sie zu befolgen.
Plötzlich machte Aaro eine abrupte Bewegung. »Ich hab den Wecker in meinem Zimmer gestellt …«
»Ich auch. Wir werden schon wach, mach dir keine Sorgen.«
Timo drückte Aaro an sich und schlief sofort ein.
33
Die afrikanische Nacht pulsierte vor Wärme und fremden Gerüchen. Der Flug mit der alten DC-9 der Hewa Bora Airways von Lusaka in Sambia nach Manono auf der kongolesischen Seite hatte Nooras Sinne betäubt, aber jetzt wurden sie umso mehr angeregt.
Noora war noch nie in Afrika gewesen, sie kam nicht umhin zu denken, wie wenig Nahrung das Leben im Norden den menschlichen Sinnen bot. Karen Blixen hatte auf ihrer Plantage geschrieben, die Liebe zum Süden sei typisch für Menschen aus dem Norden. Zu jeder anderen Stunde hätte Noora die neue Umgebung in vollen Zügen genossen, aber jetzt erhöhte sie nur ihre Anspannung. Sie hielt Ralfs Hand fest umklammert, während sie zum Auto gingen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ralf den Mann, der sich als Ilgar vorgestellt hatte und jetzt vor ihnen herging.
»Im Prinzip ja.« Dem überschlanken Ilgar hing seine Lederjacke am Leib wie an einem Garderobenhaken, und die gebräunte Haut folgte den Schädelformen wie bei einem indischen Yogi. Mit seinen dunklen Augen, den hohen Wangenknochen und dem kleinen Schnurrbart wirkte er deutlich asiatisch. Er schien gelassen und selbstsicher.
Noora und Ralf stiegen in einen alten, eckigen Peugeot-Kleinbus, hinter dessen Steuer ein schwarzer Mann im Tarnanzug saß. Er wurde Noora als Nzanga vorgestellt. Ilgar setzte sich auf den Beifahrersitz.
Sie fuhren in die Nacht hinein, die von keiner einzigen Straßenlaterne erhellt wurde. Dafür leuchtete der Mond.
»Im Prinzip?«, hakte Ralf von der Rückbank aus nach, um noch mal auf seine Eingangsfrage zurückzukommen.
»Bisschen Ärger mit den Einheimischen.«
Der Wagen beschleunigte auf der löchrigen Straße. »Sehr abergläubisch.«
Rechts und links der Straße tauchten Wellblechbaracken auf, zuerst wenige, dann immer mehr und schließlich eine unendliche Zahl. Auf Bildern hatte Noora schon viele Slums gesehen, aber einen Eindruck von dieser hier vor ihr liegenden Armut hatte keines der Bilder vermitteln
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