Ewiger Schlaf: Thriller
die sture alte Tür, um sie zu öffnen. »Wenn du den Schuss hörst, lass den Motor an.«
»Ich liebe dich, John. Das hier ist die einzige Lösung.«
Er öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen. Wenngleich er sich Mühe gab, leise zu sein, quietschte die Tür, als er sie wieder schloss. Er zuckte zusammen, zögerte aber nicht, sondern rannte geduckt über die offene Fläche zum Erdgeschoss des Apartments.
Durch das Fenster sah er ein Wohnzimmer mit einer Kitchenette an der Rückwand. An einer anderen Wand führte eine Treppe nach oben. Gut. Er griff an den unteren Rahmen und versuchte, das Fenster hochzuziehen, doch es war verschlossen. Es gab noch drei weitere Fenster im Erdgeschoss. Er ging zum nächsten und zog daran. Es ließ sich im Rahmen hochziehen. Waters legte den Revolver auf den Boden, fasste mit beiden Händen an das Schiebefenster und zog mit gleichmäßiger Kraft daran. Das Fenster gab nach und glitt nach oben.
Wenige Sekunden später stand er in dem dunklen Raum. Er roch Essig. Vielleicht eine Art Salatdressing. Auch Fleischgeruch lag in der Luft. Er schaute zur Kitchenette und sah schmutzige Teller mit den Überbleibseln von Steaks. Sybil schien nicht der Typ zu sein, der schmutziges Geschirr einfach stehen ließ, und so sah er darin ein weiteres Zeichen, dass Mallory erfolgreich gewesen war.
Er atmete tief ein und ging zur Treppe. Die Stufen waren mit Teppich ausgelegt; trotzdem setzte er zuerst einen Fuß auf die zweite Stufe und belastete sie probehalber. Sie knarrte nicht. Wenn Mallory oben war, gab es keinen Grund, leise zu sein, doch er konnte die Angst nicht abschütteln, die sich wie Tentakel um sein Herz gelegt hatte. Er umfasste die Waffe mit dem Finger am Abzug und stieg die Treppe hinauf.
Lily saß im Pick-up und lauschte Annelises Atem. Einmal wurden ihre Atemzüge so schwach, dass sie sich im Sitz umdrehte und die Hand auf Annelises Brust legte, um das beruhigende Heben und Senken ihres Brustkorbs zu fühlen. Panische Sekunden lang fragte sich Lily, ob sie dem Mädchen zu viel Benadryl gegeben hatte – dann setzte Annelises Atem wieder ein, schwach, aber fühlbar.
Wo war John jetzt? Auf der Veranda? Im Apartment? Sie betete, dass er die Nerven besaß, die Sache durchzuziehen. Ihr Mann war ein mitfühlender Mensch – das war einer der Gründe, warum sie ihn geheiratet hatte. Jetzt war das Mitgefühl sein Feind.
»Beeil dich«, murmelte sie. »Denk nicht nach. Tu es einfach.«
Sie saß jetzt schon eine ganze Weile im Pick-up, und ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. Der Mantel der Nacht teilte sich und enthüllte einen Garten mit Schaukel und Wippe und einem Rosengarten vor Sybils Apartment. Lily konnte Sybil vor sich sehen, wie sie sonntagmorgens dort arbeitete und ihr Bestes tat, um aus ihrem Apartment ein Zuhause zu machen. Dieser schlichte Gedanke durchbohrte ihr das Herz, doch sie verschloss sich vor dem aufkommenden Mitgefühl. Das war nicht allzu schwer: Sie musste nichts weiter tun, als sich auf die Vorstellung zu konzentrieren, wie sie selbst ein Fleischermesser über dem Kopf ihrer Tochter baumeln ließ. Überlagert von dieser Grauen erregenden Szene stiegen andere Bilder in ihr auf: nackte Gestalten, die in gespenstisch grünem Licht kopulierten ... ihr eigenes Gesicht, in der Ekstase verzerrt, als sie sich auf eine Weise erniedrigte, von der ihr schwindelig wurde. Das alles hatte Mallory Candler getan.
Lily erinnerte sich von der St. Stephens an Mallory. Wie Cole war Mallory in ihrem letzten Jahr gewesen, als Lily in die neunte Klasse kam. Ihre deutlichste Erinnerung an Mallory war die an ein großes, stolzes und umwerfend schönes Mädchen, das durch die Gänge der Schule schritt und ein Gefolge von starrenden Jungen hinter sich ließ. Lily war damals eine schlaksige Fünftklässlerin gewesen, besessen vom Langstreckenlauf, obwohl sie im tiefsten Innern ihres Herzens wusste, dass sie das Laufen als Vorwand benutzte, sich nicht mir ihrer Unsicherheit in Bezug auf Jungs befassen zu müssen. Eine Person wie Mallory Candler war für sie völlig unbegreiflich, ein Mädchen, das so strahlend begehrenswert war, dass selbst erwachsene Männer um sie herumscharwenzelten, wann immer sie in der Nähe war. Lily hatte auch ihren eigenen Vater einmal in Mallorys Gegenwart verlegen werden sehen. Nach diesen Erlebnissen fiel es ihr schwer, sich Mallory als die besessen eifersüchtige Psychotikerin vorzustellen, die ihr Mann beschrieben hatte. Und doch wusste
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