Ewiger Schlaf: Thriller
sodass das Mädchen das alles nicht miterleben musste.
»Lily?«
Sie drehte sich um. In seinem schwarzen Kaschmirpullover sah John jetzt schon wie ein Mann auf der Flucht aus. Sein Gesicht wirkte verhärmt, beinahe ausgezehrt, und unter seinen blutunterlaufenen Augen lagen dunkle Schatten. Er hatte den Rest der Nacht damit verbracht, den gestohlenen Truck abzustellen und nach Hause zu laufen, während Lily bei Annelise schlief.
»Ich muss aufs Polizeirevier«, sagte er ihr.
»Sie haben die Kaffeekanne meiner Großmutter zerbrochen.«
Er nahm ihr die Scherben aus der Hand. »Ich schicke sie nach England und lasse sie in der Manufaktur restaurieren.«
»Sie wird nie wieder sein, wie sie mal war.«
»Nein.« Er berührte ihren Arm. »Aber sie wird den Anschein erwecken.«
»Ich begleite dich.«
Er legte die Scherben in die Diele; dann umarmte er Lily. »Penn erwartet mich. Ich ruf dich an und sage dir Bescheid, was los ist«, versprach er. »Lass dein Mobiltelefon an.«
»Mach ich.«
Waters’ Gesicht wurde so ernst, wie sie es noch nie gesehen hatte. »Je nachdem, wie die Vernehmung läuft, könnte ich vielleicht schon heute Morgen verhaftet werden.«
Lily schloss die Augen und griff nach seiner Hand.
»Wenn das passiert«, fuhr Waters fort, »wird Penn sich wegen der Kaution mit dir in Verbindung setzen. Du solltest seine Anweisungen Wort für Wort befolgen.«
Sie wollte sprechen, aber mehr als ein Lächeln brachte sie nicht zu Stande.
John umarmte sie noch einmal; dann ging er zu seinem Land Cruiser. Als er die Auffahrt in Richtung State Street hinunterfuhr, fühlte Lily, wie tief in ihr etwas zerbrach. Die hysterische Wut der letzten Nacht war während der Durchsuchung zu Asche verglüht und hatte nur Furcht vor der bevorstehenden Vernichtung ihrer Familie zurückgelassen. Sie schämte sich für diese Furcht – sie half weder ihr noch John oder Annelise. Lily musste ihre Angst in den Griff bekommen und die einzige Waffe einsetzen, die sie jemals besessen hatte: ihren Verstand. Die zerbrochene Porzellankanne in der Diele konnte nie wieder ganz in Ordnung kommen, ihre Familie aber schon. Menschen waren keine Gegenstände. Ein verheilter Knochen war an den gebrochenen Stellen stärker als zuvor. Bei einer Familie konnte es ebenso sein.
Was die erste Gefahr betraf, die Mordanklage, konnte sie nichts tun – das war Penn Cages Job. Bei der zweiten Gefahr jedoch sah die Sache anders aus. Lily führte sich das Bild Coles vor Augen, wie er einen Revolver auf den Kopf der schlafenden Annelise richtete, verspürte aber keine Furcht, sondern kalte Wut, die ganz und gar auf die Frau gerichtet war, die ihr Leben zerstört hatte. Ihre Hände zitterten, so stark war ihr Hass auf Mallory. Als sie nun auf der Veranda ihres Hauses stand, vernahm sie eine Stimme. Es schien die Stimme einer Fremden zu sein, und doch war es ihre eigene.
»Du kannst das nicht tun«, sagte die Stimme. »Nicht mit meiner Familie. Das lasse ich nicht zu.«
Sie drehte sich um und eilte ins Haus. In der Küche zog sie ein zwanzig Zentimeter langes Tranchiermesser aus dem Messerblock und fuhr mit den Fingern über die gezackte Klinge. Dann schnappte sie sich ihr Mobiltelefon und ihre Schlüssel und eilte zum Auto.
Waters saß auf einem Plastikstuhl, der vor einem Aluminiumtisch am Boden verschraubt war. Penn Cage saß zu seiner Linken. Ihnen gegenüber hatte Detective Tom Jackson Platz genommen. Jacksons Partner, der kleine, pockennarbige Beamte namens Barlow, ging hinter Jackson auf und ab.
Auf dem Tisch stand ein eingeschalteter Kassettenrekorder, und eine Videokamera in der Ecke des Zimmers nahm jede noch so kleine Regung in Waters’ Gesicht auf.
Tom Jackson ging bei der Befragung genauso vor, wie er die ganze Angelegenheit behandelt hatte: mit der Bestimmtheit eines Freundes, den die Umstände zwingen, einer unangenehmen Pflicht nachzukommen. Er verhielt sich so, als wäre der brutale Mord an Eve ein Verbrechen, das jeder Mann in der Hitze der Leidenschaft hätte begehen können.
»Wir verhaften dich noch nicht«, sagte er. »Aber es sieht nicht gut für dich aus, John. Wir haben viel mehr Beweise, als du und dein Anwalt glauben – in diesem Punkt möchte ich ehrlich zu dir sein.«
Penns skeptischer Blick verriet Waters, dass sein Anwalt bezweifelte, dass die Polizei in irgendeinem Punkt ehrlich sein würde.
»Du weißt, dass wir eine Videoaufzeichnung haben, die deinen Wagen ungefähr eine Stunde vor dem Mord in der Nähe des
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