Ewiger Schlaf: Thriller
bat er Sybil, ihm die Zeitung zu bringen, erinnerte sich dann aber, dass Eves Leichnam erst sechs Stunden nach Erscheinen der aktuellen Ausgabe gefunden worden war. Morgen jedoch würde es eine Menge Berichte geben. Penn Cages Freundin hatte sich vermutlich von dem Augenblick an, als man Eves Leiche gefunden hatte, wie ein Pitbull in der Story verbissen. Doch Waters brauchte eine raschere Informationsquelle als die Zeitung von morgen. Er musste wissen, was die Polizei wusste. Hatten Hotelgäste Schreie aus Zimmer 324 gehört? Hatte jemand sein Wissen über Eves Aktivitäten in letzter Zeit offenbart? Welche Indizienbeweise waren vom Tatort mitgenommen worden?
Das Telefon klingelte, und er fuhr aus seiner Versunkenheit hoch.
»Ihre Frau ist auf Leitung eins«, sagte Sybil.
»Ich gehe dran.« Er drückte den Knopf. »Hallo, Lily.«
»Hast du das von Eve Sumner gehört?«
»Ja.«
»Ist das nicht unglaublich?«
Nein. »Ja.«
»John, ich habe nachgedacht.«
Er wartete ab.
»Es gibt Gerüchte, dass Eve sich in dem Hotel mit jemandem getroffen hat und dass derjenige ihr Mörder ist.«
»Davon weiß ich nichts.«
»O doch, du weißt es. Dass sie Affären hatte, meine ich. Eve hatte immer Affären. Sie konnte die Liebe nicht finden, die sie brauchte; deshalb hat sie immer weiter gesucht. Und seit ich davon gehört habe, muss ich dauernd an uns denken.«
»An uns? Warum?«
»Weil ... ich weiß, dass du letzte Nacht fort warst.«
Die Brust wurde ihm plötzlich so eng, dass er kaum noch Luft bekam.
»Ich weiß, dass du wahrscheinlich nur in der Gegend herumgefahren bist, wie du es öfter tust. Aber es könnte ja auch anders sein. Ich könnte es dir nicht zum Vorwurf machen, wenn du etwas getan hättest ... so, wie es zwischen uns gelaufen ist. Und was Eve passiert ist, könnte jedem passieren. Wenn du verzweifelt bist und du suchst an den falschen Stellen nach etwas, das du eigentlich zu Hause bekommen solltest, dann ...«
»Lily, nicht«, sagte er, überrascht von der Hysterie in ihrer Stimme.
Sie schluchzte auf; dann schluckte sie ihre Tränen herunter. »Ich bin so dumm. Es macht mich wütend, dass mit mir etwas nicht stimmt und dass ich es trotzdem nicht ändern kann. Ich weiß, ich habe das schon einmal gesagt, aber jetzt ... Ich muss es, John. Ich muss mich ändern. Das Leben ist zu kurz.«
Warum hatte Lily das alles nicht vor zwei Wochen gesagt? Vielleicht hätte er Eves Sirenengesang dann widerstehen können. »Ist schon in Ordnung, Babe. Es ist alles in Ordnung.«
»Nein, ist es nicht. Und ich möchte aufhören, so zu tun, als wäre es so. Ich will dich nicht verlieren, John.«
Und ich will dich und Annelise nicht verlieren. »Wir reden darüber, wenn ich nach Hause komme. Warum gehst du nicht schwimmen? Das hilft dir doch immer, dich besser zu fühlen.«
»Kommst du nach der Arbeit gleich nach Hause?«
»Ich glaub schon.«
»Gut.« Sie hielt inne, doch er spürte, dass sie noch mehr sagen wollte. »Ich möchte Annelise heute Abend früh ins Bett schicken«, fügte sie hinzu. »Und ich ... ich will mit dir schlafen. So wie früher.«
»Lily ...«
»Ich liebe dich, John.«
»Ich liebe dich auch.«
Nach einem Augenblick des Zögerns legte sie auf.
Ihr Anruf versetzte ihn in eine Art Manie. Wie konnte die Situation sich nur so entwickeln? Wie konnte der Tod einer beinahe Fremden die Einstellung seiner Frau zum Sex ändern, wenn nicht einmal seine geduldigsten Bemühungen das vermocht hatten? Und wieso war diese Fremde ausgerechnet die Frau, der er sich mit all seinen unbefriedigten Bedürfnissen zugewandt hatte? Waters kam sich vor, als wäre er plötzlich in einer verrückten griechischen Komödie aufgewacht, in der nur das Schicksal und die Furien ihre Rollen gut genug kannten, um zu agieren.
Er hätte das Büro gern verlassen, glaubte aber, dass er bis fünf bleiben sollte, um den Anschein zu wahren. Schon bald begann er, über morbide Schicksalsironien nachzudenken – zum Beispiel darüber, dass Eves Körper mit ziemlicher Sicherheit auf dem gleichen Tisch einbalsamiert wurde, auf dem vor zehn Jahren Mallorys Leiche gelegen hatte. Natchez hatte in Sachen Rassenintegration ziemliche Fortschritte gemacht, aber im Tod war die Stadt immer noch zweigeteilt. Wenn ein Weißer in dieser Stadt starb oder beerdigt wurde, kam nur ein einziges Bestattungsunternehmen infrage. Aber vielleicht war Eves Leichnam noch gar nicht dort. Man würde eine Autopsie vornehmen. Waters hatte keine Ahnung, wo das
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