Ewiger Schlaf: Thriller
wieder nicht schlafen«, sagte er.
Lily schwieg.
»Ich weck Annelise«, sagte er.
»Ja.«
Er ging zum Fuß der Treppe und rief Annelise zu, dass sie aufstehen solle; dann schlenderte er in die Küche und machte Brötchen und Eier mit Schinken. Bis Lily aus dem hinteren Teil des Hauses kam, kaute Annelise an einem Brötchen und schaute den Disney-Kanal im Satellitenfernsehen.
Während Waters inmitten dieser Illusion der Normalität saß, überwältigten ihn Reuegefühle. Wie hatte er dieses gesegnete, gut geordnete Universum aufs Spiel setzen können? War er so pervers? War die Erinnerung an Mallory Candler so übermächtig? Es sah ganz so aus. Aber er war nicht so realitätsfern, dass er seine Pflichten als Vater nicht mehr erkannte. Um Lily und Annelise zu beschützen, musste er ein wasserdichtes Alibi für die letzte Nacht konstruieren. Zunächst musste er genau wissen, was Lily in dieser Nacht gesehen hatte, doch auf diese Information würde er bis zum Abend warten müssen. Selbst wenn sie bemerkt hatte, dass er desertiert war, würde sie das Thema vor Annelise nicht ansprechen.
Während sich um ihn herum das häusliche Leben entfaltete, dachte er über bittere Wahrheiten nach. Es war unmöglich abzuschätzen, wie die Chancen standen, dass er ein freier Mann blieb. Die Umweltbehörde konnte jederzeit gegen seine Firma entscheiden, und dann würde sein gesamter Besitz beschlagnahmt. Lily würde vielleicht das Haus behalten, doch sie hätte kein Einkommen. Wenn Waters wegen Mordes im Gefängnis saß, könnte er kein Geld nach Hause bringen, und wenn Lily wieder in ihren Beruf als Betriebswirtin zurückkehrte, würde sie im ersten Jahr höchstens dreißigtausend Dollar verdienen – falls sie in Natchez in diesen schwierigen Zeiten überhaupt einen Job fand. Waters besaß eine Lebensversicherung über zwei Millionen Dollar, aber falls er nicht die Todesstrafe bekäme – und falls sie nicht mit beispielloser Geschwindigkeit verhängt würde –, würde Lily das Geld von der Versicherung erst Jahrzehnte später sehen. Seine Frau und seine Tochter würden binnen weniger Wochen von der wohlhabenden oberen Mittelklasse in die Armut absinken. Während er Annelise die Marmelade für ihr Brötchen reichte, machte er sich in Gedanken eine Notiz, die Selbstmordklausel seiner Lebensversicherung zu überprüfen und nachzusehen, ob die Versicherung auch im Fall einer Hinrichtung durch den Staat zahlte. Dass er sich selbst an einen Punkt manövriert hatte, an dem solche Gedanken notwendig geworden waren, ließ ihn sich hohl und leer fühlen, wie jemand, der unter einer Krankheit leidet, die ihn mehr und mehr verfallen lässt.
Waters küsste Lily und seine Tochter zum Abschied, dann ging er zurück ins Schlafzimmer, um anschließend »zu duschen«. Als er den Acura die Einfahrt hinunter in Richtung State Street rollen hörte, setzte er sich aufs Bett und begann zu zittern.
Seine nächste klare Erinnerung war, dass er in seinem Büro am Schreibtisch saß und auf ein Foto von Mallory starrte. Irgendwie hatte er sich frisch gemacht und war in die Stadt gefahren, doch er konnte sich nicht daran erinnern. Er musste sich zusammenreißen. Falls irgendetwas den Verdacht auf ihn lenkte – Telefonmitschnitte, Gegenstände oder Spuren in Eves Haus, ein Zeuge, von dem er nichts wusste –, würde er die Polizei in seinem jetzigen Zustand nicht einmal fünf Minuten täuschen können. Natürlich wäre er ohnehin verloren, wenn er ernstlich in Verdacht geriete. Die Polizei würde das Sperma aus Eves Leiche analysieren und die DNA mit der sämtlicher Verdächtiger vergleichen. Im grellen Licht des Rückblicks verfluchte er seine Zimperlichkeit. Er hätte seine Gefühle ausschalten, den Putzwagen eines Zimmermädchens suchen und irgendein starkes Reinigungsmittel mit ins Zimmer nehmen sollen, um damit diesen eindeutigsten aller Beweise zu verfälschen oder zu vernichten. Aber das hatte er natürlich nicht getan. Das wäre das Werk eines Ungeheuers gewesen, nicht das eines Menschen. Und dennoch ... der Gedanke ließ ihn nicht los.
»Rock, alter Junge, geht es dir gut?«
Waters blickte auf und sah Coles massigen Körper auf sich zusteuern. Er fegte Mallorys Foto in die Mappe und warf diese in eine offene Schublade.
»Ganz gut, danke. Warum fragst du?«
»Sybil sagte, sie hätte dir von der Sache mit Eve erzählt.«
»Hat sie. Hört sich furchtbar an.«
Coles Augen studierten Waters’ Gesicht aufmerksam; er würde selbst das kleinste
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