Ewigkeit
als die Sonne durch die Wolken brach. Vorsichtig kamen die gestürzten Menschen wieder auf die Beine. Selbst das Pferd schaffte es irgendwie, sich aufzurichten.
»Es ist vorbei«, hörte sie die Leute voller Erleichterung sagen, als sie sich fassten und ihren Weg über den Boulevard fortsetzten. Niemand schien sich darum zu besorgen, Einkäufe und andere Dinge verloren zu haben. Die Menschen waren nur froh, dass der Silberregen aufgehört hatte. Die Straße leuchtete wieder in hellen Farben.
»Es ist nicht vorbei!«, rief Auger. Sie war die einzige Person, die immer noch stillstand, während die Fußgänger an ihr vorbeiströmten. »Es ist nicht vorbei!«
Aber niemand hörte auf sie, selbst als sie die Hände an den Mund legte und noch lauter rief: »Es ist nicht vorbei! Dies war erst der Anfang!«
Die Menschen liefen achtlos an ihr vorbei. Auger hielt ein junges Pärchen fest, doch die beiden rissen sich los und lachten ihr ins Gesicht. Mit dem schrecklichen Gefühl der Unausweichlichkeit beobachtete sie, wie sie ihren Weg zum Triumphbogen fortsetzten. Nach mehreren Schritten stockten sie und hielten mitten im Schritt inne. Alle Menschen auf der Straße taten es im gleichen Augenblick.
Ein paar Sekunden lang war es völlig still auf den Champs-Elysées. Tausende waren plötzlich zur Reglosigkeit erstarrt, manche in den seltsamsten Posen. Dann verloren sie langsam, einer nach dem anderen das Gleichgewicht und brachen zusammen. Ihre völlig erstarrten Körper übersäten den Boulevard, so weit das Auge reichte. Auch weit über die Champs-Elysées hinaus hatte sich eine beinahe greifbare Stille über die gesamte Stadt gelegt. Nichts rührte sich, nichts atmete mehr. Die Körper waren silbergrau geworden, hatten jede Farbe verloren.
Es herrschte Totenstille. In gewisser Weise hatte es etwas Schönes: eine Stadt, die endlich von ihrem menschlichen Joch befreit worden war.
Dann kam Wind auf und wehte den Boulevard entlang. Wo er die Toten berührte, wirbelte er Fäden aus Staub auf, schlang sie durch die Luft wie lange glitzernde Schals. Als sich der Staub von den Toten löste, verschwand zuerst ihre Kleidung und dann ihr Fleisch, bis chromfarbene Knochen und stahlgraue Panzer aus Nerven und Sehnen übrig blieben. Der Wind wurde stärker und trug schließlich auch die Knochen ab, glättete die Leichen zu seltsamen, abstrakten Formen, die wie eine Landschaft aus Sanddünen wirkte. Staubspiralen schlängelten sich fein und metallisch zwischen Augers Lippen.
Nun schrie sie, aber es war völlig sinnlos. Der Silberregen war gekommen, und niemand hatte ihre Warnung beachtet. Wenn die Menschen nur auf sie gehört hätten! Aber dann fragte sie sich, was es ihnen genutzt hätte.
Aus der Ferne hörte sie ein rhythmisches Geräusch. Im Meer aus verwischten Skelettresten stand eine Gestalt, die nicht zu Boden gegangen war. Der kleine Junge schlug immer noch seine Trommel, immer noch schritt er langsam auf sie zu und suchte sich zwischen den Knochen einen Weg …
»Verity«, sagte Floyd leise. »Wachen Sie auf. Sie hatten einen Alptraum.«
Sie brauchte mehrere Sekunden, um aus dem Traum aufzutauchen, obwohl Floyd sie behutsam schüttelte. Er stand neben ihrer Koje, und sein Kopf war auf ihrer Höhe, als sie im schwach beleuchteten Schlafwagenabteil die Augen öffnete.
»Ich dachte, ich wäre wieder in Paris«, sagte sie. »Ich dachte, der Regen hätte eingesetzt.«
»Sie haben wie am Spieß geschrien.«
»Sie wollten nicht auf mich hören. Sie dachten, es wäre vorbei … sie dachten, sie wären in Sicherheit.« Ihr war kalt, und sie war in Schweiß gebadet.
»Jetzt ist alles wieder gut«, sagte er. »Sie sind in Sicherheit. Es war nur ein böser Alptraum.«
Durch den Spalt im Vorhang sah sie, wie draußen die mondbeschienene Landschaft vorbeizog. Sie waren immer noch auf dem Weg nach Berlin, jener vereisten, von Maschinen verseuchten Stadt, die auf ihre Art genauso gefährlich wie die ausgeschachteten Eingeweide von Paris war. Für einen kurzen Moment geriet sie in Panik, wollte Floyd sagen, dass sie umkehren mussten, dass diese Reise sinnlos war. Doch nach und nach ordneten sich ihre Gedanken, während der Traum immer mehr verblasste. Sie waren zu einem anderen Berlin unterwegs, das nie den Nanocaust oder einen der anderen Schrecken des Leeren Jahrhunderts erlebt hatte. Das strahlend helle, vom Regen überschwemmte Paris war nur ein Traum gewesen.
»Sie wollten nicht auf mich hören«, sagte sie leise.
»Es war
Weitere Kostenlose Bücher