Ewiglich die Hoffnung
hochkommen zu lassen.
Fast.
Wem versuchte ich da, etwas vorzumachen? Morgens hatte ich meist das Gefühl, mich Stück für Stück wieder zusammensetzen zu müssen, bloß um den Tag anzufangen. Denn was Jack für mich getan hatte – als er in die Tunnel sprang und an meiner Stelle in die Hölle ging –, das hatte meine Seele zerbrochen.
Ich warf einen verstohlenen Blick auf das Regal über meinem Schreibtisch, wo etliche Fotos von Jack und mir standen, neben einem zerknüllten Zettel mit den Worten Ewig Dein , in Jacks schlampiger Jungenhandschrift. Der Geist seiner Gegenwart war überall – in dem Kartenspiel, das auf dem Schreibtisch lag, der Steppdecke auf meinem Bett, dem Buch, das er mir vor Jahren geliehen hatte –, aber besonders stark zeigte sich sein Geist auf diesem Regal. Ich wusste nicht, wie oft ich versucht hatte, die Bilder wegzuräumen, in eine Schublade oder unter mein Bett, irgendwohin, wo ich sie nicht mehr sehen würde. Doch ich konnte es einfach nicht.
Ich griff nach einem Bild in der Ecke, auf dem mein Gesicht zur Hälfte und Jacks ganz zu sehen war. Es war eines dieser selbst aufgenommenen Fotos. Jack hatte oben an der Sommerrodelbahn die Kamera auf uns gerichtet. Zu sehen waren nur unsere Gesichter vor verschwommenem Immergrün im Hintergrund.
Die Erinnerung schloss sich wie ein Schraubstock um mein Herz, und als meine Finger den Rahmen berührten, zog ich ruckartig die Hand zurück und riss dabei das Bild vom Regal. Das Glas im Rahmen zersprang auf dem Holzboden. Aber es war nicht nur das Geräusch von zersplitterndem Glas. Es waren die alten Wunden, die wieder aufbrachen und tief in mir widerhallten. Ich presste den Kopf zwischen die Hände. Manchmal konnte ich nur so verhindern, dass ich nicht selbst in tausend Stücke zerbrach.
Es waren solche Gedanken, die mir klarmachten, dass auch die vielen Visualisierungsübungen mit Dr. Hill – der Therapeutin, zu der mein Dad mich schickte – mir nicht würden helfen können.
Ich hörte Schritte auf dem Flur und hielt den Atem an. Vielleicht hatte mein Vater den Krach gehört. Ich rechnete schon mit einem Klopfen an der Tür, aber es kam keins. Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, versuchte, mich am Schreibtisch aufrecht hinzusetzen und mich auf die Karte zu konzentrieren. Mein Dad durfte auf keinen Fall sehen, wie verzweifelt ich war. Und meine Verzweiflung lag nicht nur daran, dass der Junge, den ich liebte, plötzlich verschwunden war. Nein, sie beruhte auch auf dem Wissen, dass ich allein die Schuld daran trug.
Mein Dad hatte genug durchgemacht.
Die obere mittlere Schublade meines Schreibtischs war breit und flach, bestens geeignet für eine Karte von den USA. Ich zog die Kappe von meinem roten Stift ab und setzte einen zittrigen kleinen roten Punkt auf Austin, legte dann die ausgeschnittene Schlagzeile auf den Stapel mit den anderen neben der Karte.
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DIE DEADS IN DURHAM.
AUF DER SUCHE NACH DEN DEADS : EIN VLOG.
Auch ich suchte nach den Deads , aber nicht, weil ich ein Fan war. Cole Stockton, der Leadgitarrist, war vor drei Wochen spurlos von meinem Radar verschwunden und hatte mir damit die einzige Chance genommen, ins Ewigseits zu gelangen.
Meine einzige Chance, Jack zu finden.
Ich schloss die Augen.
Bleib bei mir, Becks. Träum von mir. Ich bin ewig dein.
Vor zwei Monaten hatte Jack diese Worte zu mir gesagt. Es waren die letzten Worte, die er sprach, ehe die Tunnel des Ewigseits ihn aufsaugten. Die Worte verfolgten mich, und ich wusste, ich würde kein richtiges Leben mehr führen können, solange er nicht wieder bei mir war. Die Frage war, wie ich ihn zurückholen sollte.
Niemand geht einfach so ins Ewigseits. Bei meinen Recherchen war ich auf keinen einzigen Menschen gestoßen, der es ohne Hilfe eines Ewiglichen ins Ewigseits geschafft hatte. Niemanden, der es allein dorthin – und wieder zurück – geschafft hatte.
Also blieb nur Cole. Er und seine Band waren die einzigen Ewiglichen, die ich kannte.
Cole hatte mich einmal besucht, etwa einen Monat nach jener schrecklichen Nacht. Er hatte vor unserem Haus gewartet, ohne jede Spur seiner sonstigen Lässigkeit. Er wollte, dass ich unsterblich werde wie er.
Ich muss mich erst in neunundneunzig Jahren wieder nähren , hatte er gesagt. Wie kommst du darauf, dass ich je aufgeben würde?
Er
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