Ex en Provence
Gewissen haben? (8. November, 18:44)
Nein. (8. November, 18:46)
Bitte nicht so gesprächig! (8. November, 18:55)
Bin sehr beschäftigt, sorry. (8. November, 18:57)
Wie heißt er? (8. November, 18:59)
Ladenschluss! (8. November, 19:00)
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Montag, 8. November, 20:15
Im Unterricht in der »École Polyglotte«
Jule hat sich gerade an den Lehrertisch gesetzt, eine Tüte Bastelmaterial darauf entleert und Kuschelfrosch Napoleon daneben drapiert. In ihre Ohren hat sie sich die Kopfhörerstöpsel meines eigentlich museumsreifen Sony-Walkman gestopft, in dem wiederum ihre Cassette »Bibi Blocksberg verliebt sich« steckt. Jule singt das Begrüßungslied: »… du kleine Hexe, komm zu uns, sei unser Freund …«
Vorhin habe ich sie wieder einmal durch den Hintereingang in die Sprachenschule geschmuggelt. Reine Vorsichtsmaßnahme, denn Madame Guillotin selbst arbeitet natürlich nicht am Abend. Aber man weiß ja nie. Und meine Chefin wäre sicher nicht begeistert von der Präsenz meiner Tochter, die ihr wahrscheinlich schon rein ästhetisch ein Dorn im wachsamen Auge wäre.
Jule trägt nämlich schon ihren Schlafanzug.
Mich plagt ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass Jule seit dem unrühmlichen Abgang unserer Kinderfrau jetzt regelmäßig bis 22 Uhr in meinem Unterricht sitzen muss – zu einer Zeit, zu der Kinder in »ordentlichen« Familien längst von Mama oder Papa eine schöne Geschichte vorgelesen und einen liebevollen Gutenachtkuss bekommen haben.
Nach ihrer ersten Teilnahme an meinem Abendkurs schlief Jule auch prompt im Auto ein und war zuhause nur noch mit Mühe zum Übersiedeln ins Bett zu überreden. Auch den Pyjama musste ich ihr im Halbschlaf überstreifen. Also kommt Jule jetzt im Schlafanzug mit – natürlich stets im repräsentativsten Modell, das wir haben, und mit einem Pulli darüber, damit es nicht ganz so auffällt.
Bei meinen »Schülern« – immerhin zwischen 45 und 60 Jahre alt – kommt Pyjama-Jule sehr gut an. Auch jetzt linst Marie-Odile, die 55-jährige Sekretärin in Altersteilzeit, wieder schmunzelnd zur in sich versunkenen, halblaut singenden Jule.
»Psst, Jule«, sage ich, rüttele ein bisschen an ihrer Schulter und halte mahnend meinen Zeigefinger vor die Lippen.
»Ach, lassen Sie sie doch«, protestiert Marie-Odile, die Jule ganz offensichtlich besonders ins Herz geschlossen hat. Sie hatte auch gleich beim zweiten Mal, als Jule mitkam, eine Tüte »fraise tagada« dabei. Die Haribo-Erdbeeren genießen in Frankreich Kultstatus. Und Jule eroberte endgültig die Herzen meiner Schüler, als sie großzügig mit der Tüte die Runde machte und jedem eine Frucht aus Zuckerschaum anbot, bevor sie den Rest selbst vertilgte.
In meinem Abendkurs mit Jule folgten immer neue Süßigkeiten: selbst gebackene Kekse von Hortense, der Hotelwirtin, eine Tüte »Nougat de Montélimar« von Véronique, der Frau von der Touristeninformation, und schließlich eine ganze Kiste nobelster Pralinen von François, dem Manager, der nächstes Jahr beim Deutschland-Geschäft seines Konzerns das Ruder herumreißen soll.
Der Deutschkurs entwickelt sich also langsam zum Kaffeekränzchen. Die Stimmung ist hervorragend, und meine Schüler haben größtes Verständnis dafür, dass die nächste Unterrichtsstunde wegen des Bauernhof-Ausflugs ausfallen wird.
Gerade habe ich schon einmal groß »Schönes Wochenende« an die Tafel geschrieben und damit die heutige Lektion über Grußformeln eingeleitet. Es passte hervorragend, denn dieser Deutschkurs hat nur am Montag-und Freitagabend Unterricht, so dass eigentlich schon heute – am Montag – das Wochenende beginnt. Am Freitag werde ich mich schließlich schon mit Jule und ihrer Klasse auf den Weg zu Misthaufen und Melkmaschine machen. Ich betrachte es nur als fair, meine Schüler vorher von meiner geplanten »Krankheit« zu informieren, die mich Freitag niederstrecken wird.
»Das ist doch sehr praktisch, der Donnerstag ist ja ohnehin ein Feiertag«, erklärt Hortense. »Dann haben wir ein sehr langes Wochenende.«
»Feiertag?«
»Ja, der 11. November. Waffenstillstand nach dem Ersten Weltkrieg.«
»Der wird noch gefeiert?«
»Ja, durchaus.«
Na, ist ja auch erst knapp hundert Jahre her.
»Ach so.«
»Und wenn er – wie dieses Jahr – auf einem Donnerstag liegt, nehmen sich die meisten Leute ohnehin am Freitag frei. Ein Brückentag sozusagen. ›On fait le pont.‹ Sie etwa nicht?«
»Nein, äh …«
Aber genau das dürfte Madame Guillotin gedacht
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