Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Seiten entgegenbringe.
Spitzi hörte still zu. Ein bißchen blondes Haar glänzte unter dem Weiß des Verbandes vor, die Nase zipfelte schräg und hochmütig heraus, mit dem einen Aug schaute er Wiesener unverwandt an. Bestimmt grinste er innerlich.
Als sich Wiesener verabschieden wollte, griff Spitzi zur Schreibtafel, die man ihm bereitgestellt hatte. »Wenn ein Augur dem andern begegnet«, schrieb er.
Acht Tage später suchte Wiesener Herrn von Gehrke ein zweites Mal auf.
Es war mittlerweile alles so eingetroffen, wie es Wiesener vorhergesehen hatte. Der Botschafter, neuen Wind in seinen Segeln spürend, hatte Spitzis Sache zu seiner eigenen gemacht und den Bären mobilisiert, Spitzis alten Protektor. Die Propagandamaschinerie des Reichs war in Tätigkeit gesetzt, und Spitzi war zum Helden und Märtyrer ernannt worden; er war gewissermaßen bei Lebzeiten in die Walhalla aufgestiegen, in die Nachbarschaft Horst Wessels, des zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft heiliggesprochenen Zuhälters.
Er war sich denn auch, als Wiesener bei ihm eintrat, dieser Rolle bewußt und äußerst angeregt. Dabei war die Unterhaltung nicht einfach. Herr von Gehrke mußte sich für seine Antworten noch immer der Schreibtafel bedienen; er durfte nur wenig sprechen, und wenn er einmal sprach, dann klangseine Stimme sonderbar rostig. Wiesener, so genau er die Zusammenhänge kannte, vermochte sich nicht ganz der Wirkung zu entziehen, die der neue Ruhm des Mannes ausstrahlte; er fand, die rostige Stimme, die selten erklingende, erhöhte das Geheimnisvolle, Bedeutende, das um seinen Gegner war.
Gehrke hatte Wieseners Aufsatz über die Jungfrau von Orléans gelesen. »Glauben Sie übrigens«, schrieb er auf seine Tafel, »daß sich die Jungfrau immer ganz ernst genommen hat?« Wiesener ging in dem kleinen, hellen Zimmer auf und ab und bemühte sich, die Argumente, die er sich für seinen Glauben an die Begeisterung zurechtgemacht hatte, in schwungvollen Sätzen wiederzugeben. Allein Spitzis Anblick nahm ihm den Schwung. Spitzi trug jetzt einen kleinen Verband, die Tücher deckten nur mehr ein halbes Aug, mit den anderthalb verbleibenden Augen folgte der Liegende dem auf und ab Gehenden und blinzelte ihm zu, dergestalt, daß es ihn störte und verwirrte. Und als gar Wiesener zu deklamieren begann über die Ähnlichkeiten zwischen der Jungfrau und dem Führer, unterbrach ihn Spitzi durch heftige Gesten, und, grimassierend, eilig, in schwer lesbaren Schriftzeichen, schrieb er auf seine Tafel: »Hören Sie auf. Lachen ist mir verboten, lachen tut mir weh.«
»Was werden Sie tun, wenn Sie wiederhergestellt sind?« fragte später Wiesener. »Vor allem«, kündigte ihm Spitzi auf seiner Schreibtafel an, »werde ich gewisse Projekte zu Ende führen, die ihr mir bisher sabotiert habt. Zuerst einmal mache ich meinen Pressefrieden«, schrieb er, und die Wörter »ich« und »Pressefrieden« schrieb er mit Blockbuchstaben.
Doch nach diesem Ausfall wurde er rasch wieder verträglich. Das Glück machte ihn umgänglich, er wurde zunehmend herzlicher, und schließlich gab man sich wieder kameradschaftlich wie in alten Tagen, und der Haß der letzten Monate war vergessen. Als gar Madame Didier kam, geriet man in die behaglichste Stimmung. Befriedigt nahm Spitzi wahr, wie sehr die hübsche, weißhäutige Corinne dem andern gefiel.
»Wir müssen noch einen vergnügten Abend zu dreien haben«, schlug er auf seiner Schreibtafel vor, »ehe ich wegfahre.« – »Beabsichtigen Sie denn, so bald schon wegzufahren, Spitzi?« erkundigte sich Wiesener. »Ich will die Zeit nützen«, antwortete, immer auf seiner Tafel, Spitzi. »Man frißt, solang man am Trog ist«, und: »Glauben Sie denn, daß die Herrlichkeit ewig dauert?« fragte er weiter. »Welche Herrlichkeit?« fragte Wiesener. Da aber tat Spitzi den Mund auf, und mit seiner brüchigen, mühsamen Stimme erläuterte er: »Unsere.« – »Er soll doch nicht sprechen«, jammerte Corinne.
Wiesener aber bedachte dieses »unsere«, und es ging ihm auf, daß Spitzi offenbar nicht nur sein eigenes Glück im Sinn hatte, sondern auch das seine, Wieseners, und das des ganzen Regimes. »›Den Erben laßt verschwenden‹«, zitierte er nachdenklich, »›An Adler, Lamm und Pfau / Das Salböl aus den Händen / Der toten alten Frau.‹« – »Was heißt das?« erkundigte sich Corinne. »Das heißt«, kommentierte Spitzi und versuchte mit seiner rostigen Stimme zu singen, »Wir versaufen unsrer Oma kleines
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