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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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allen Regeln der Kunst auszuschlachten. Und er muß zuschauen, tatenlos. Wenn wenigstens das Nilpferd noch hier wäre. So aber ist er dazu verdammt, wieder einmal dazuhocken und zu warten.
    Er fuhr in die Rue de Lille. Dort, auf der Botschaft, war man in der Tat voll von kaum verstecktem Triumph. Jetzt war man wieder Mittelpunkt, unversehens hatte die Rue de Lille die Rue de Penthièvre geschlagen.
    Was die Fakten anlangte, so ergab sich folgendes: ein junger Mensch, ein gewisser Klemens Pirckmaier, wie sich mittlerweile herausgestellt, hatte unter einem Vorwand Herrn von Gehrke zu sprechen verlangt und, als man ihn vorgelassen, sogleich auf ihn geschossen. Dieser Klemens Pirckmaier war ein politisierender Emigrant, ein übler Hetzer, der Sohn jenes Franz Pirckmaier, der schon in der Weimarer Zeit zu den gefährlichsten Gegnern des Führers gehört hatte. Der Botschafter hatte sich natürlich sogleich selber mit Berlin ins Benehmen gesetzt, und Berlin hatte zu einem großen Schlag ausgeholt, der die gesamte Emigration treffen sollte. Jetzt schon, während man hier mit Wiesener spricht, erscheinen in Berlin Sonderausgaben, und der Rundfunk verbreitet die Nachricht außerhalb des normalen Meldedienstes. Kein Zweifel, daß das ganze deutsche Volk sich empören wird über dieses Bubenstück.
    Wiesener hörte grimmig zu. Geschickt hat das der Botschafter gedreht, das läßt sich nicht leugnen. Geistesgegenwärtig hat er es verstanden, die Tat zu generalisieren, sie der gesamten Emigration an die Rockschöße zu hängen und das Berliner Reklameministerium einzuspannen, daß es seinen ganzen großartigen Apparat in Betrieb setze. Und der Nutznießer ist er, der Botschafter, ist die Rue de Lille, und allenandern voran Spitzi, der Held, der Märtyrer, der seiner verblaßten und vergessenen »Leistung« von damals jetzt eine zweite, viel besser im Licht stehende zugesellt hat.
    »Und Spitzi?« fragte er. »Und Herr von Gehrke?« verbesserte er sich rasch. »Wie geht es ihm? Wird er davonkommen?« Die Spannung, die in seiner Frage lag, war ehrlich. Der Botschaftsrat, der ihm Auskunft gab, machte ein ernstes, besorgtes Gesicht. »Wir wissen noch nichts«, erklärte er, »wir wissen noch nichts Bestimmtes.« Aber es war ein kleiner, spöttischer Unterton in seiner Antwort, und Wiesener war sicher, es war Spitzi nichts Ernstliches zugestoßen, und man bauschte nur aus Opportunitätsgründen die Angelegenheit nach Möglichkeit auf.
    Er fuhr ins Amerikanische Krankenhaus, finsterer Laune. Da hatte er, Wiesener, aus höchster Höhe auf den ohnmächtig schimpfenden, erledigten Rivalen heruntergeschaut. Aber – es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre – man soll wahrhaftig niemand vor seinem Tode für erledigt halten. »Das verdammte Glück, ohne das kann man nicht einmal ein rechter Spitzbube sein.« Das steht bei Lessing, glaube ich, noch dazu ironischerweise in dem Stück »Die Juden«. Auf alle Fälle ist jetzt er, Wiesener, der Gelackmeierte, der vom Glück Betrogene, und mit seinen Träumen, der Botschafter sei zum Schatten geworden und er selber des Führers Stellvertreter in Paris, ist es aus.
    Im Amerikanischen Krankenhaus gab ihm der Arzt eingehenden Bericht. Man hatte schneiden und nähen müssen, der Patient wird einige Tage ziemlich starke Schmerzen zu ertragen haben. Auch wird er wohl ein wenig entstellt bleiben und, infolge der Halsverletzung, nicht mehr in den Vollbesitz seiner Stimme gelangen. Im übrigen aber hat er Glück im Unglück gehabt. Die goldene Schienung, die er im Munde trägt, hat das Schlimmste verhütet. Der Kiefer ist freilich unangenehm beschädigt. Aber Baron Gehrke wird in nicht allzu langer Zeit wiederhergestellt sein und vielleicht schon in vierzehn Tagen oder drei Wochen das Hospital verlassen können.
    So ein Glückspilz, dachte Wiesener grimmig. So ein veinard. Das ist ein gutes Wort. Veinard, man hat die rechte Ader. Ob wohl das deutsche »Schwein haben« auch von »veine« kommt? Mal nachschauen. Zuerst aber werde ich mir einmal den veinard selber anschauen.
    Spitzis Kopf war verbunden, nur eines seiner Augen sichtbar. Er reichte Wiesener eine warme, schwache Hand. Sprechen konnte er natürlich nicht. Dafür sprach Wiesener. Er sagte das Gegebene. Bedauerte Spitzi, freute sich, daß er so verhältnismäßig glimpflich davongekommen war, sprach ihm von der Entrüstung, die im ganzen Reich über das gemeine Verbrechen herrsche, und über die Anteilnahme, die man ihm von allen

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