Exit
gemacht worden wäre - ohne Befund -, dann hätte ich wirklich Angst bekommen.«
»Angst wegen der Kopfschmerzen?«
»Natürlich. Nach soviel Zeit im Krankenhaus beginnt man, sich Dinge einzubilden. Man denkt immer sofort an das Schlimmste. Es macht mir jedesmal angst, wenn sie nachts aufwacht und schreit. Wer weiß, was als nächstes passiert.«
Sie brach wieder in Tränen aus, und ich reichte ihr ein neues Taschentuch.
»Entschuldigen Sie, Dr. Delaware. Aber ich ertrage es einfach nicht, sie leiden zu sehen.«
»Das ist doch selbstverständlich«, sagte ich. »Unglücklicherweise sind es gerade die Dinge, die ihr helfen sollen, die Tests und die Untersuchungen, die ihr die meisten Schmerzen bereiten.«
Sie seufzte tief und nickte.
»Deshalb hat Dr. Eves mich gebeten, mich um Sie zu kümmern. Es gibt nämlich psychologische Techniken, die Kindern helfen, mit Behandlungsängsten fertig zu werden, und die den Schmerz sogar verringern können.«
»Techniken!« Sie klang ein wenig wie Vicki Bottomley, jedoch nicht so sarkastisch. »Das wäre großartig. Was immer Sie tun können, ich bin für alles dankbar. Es ist einfach furchtbar, mit anzusehen, wie Cassie Blut abgenommen wird.«
Ich mußte an Stephanies Worte denken, wie gefaßt die Mutter bei allen Prozeduren geblieben war. Cindy schien meine Gedanken zu lesen und sagte: »Jedesmal, wenn jemand mit einer Nadel hereinkommt, wird mir ganz kalt. Es ist nur um Cassies willen, daß ich mir nichts anmerken lasse, obwohl ich sicher bin, daß sie weiß, was ich fühle. Wir sind uns so nahe. Sie ist alles, was ich habe. Sie braucht mich nur anzuschauen, dann weiß sie, was in mir vorgeht. Es hilft ihr nicht, doch was soll ich machen? Ich kann sie doch nicht allein lassen.«
»Dr. Eves sagt, Sie verhalten sich vorbildlich.«
Etwas änderte sich in den braunen Augen. Vielleicht ein Anflug von Härte? Es war nur für eine Sekunde, dann stellte sich wieder das müde, sanfte Lächeln ein.
»Dr. Eves ist wunderbar. Wir… sie war die… sie ist wirklich wunderbar zu Cassie, obwohl Cassie nichts mehr von ihr wissen will. Mir ist klar, daß diese Kette von Erkrankungen auch für sie furchtbar sein muß. Jedesmal, wenn sie zur Aufnahme gerufen wird, fühle ich mich elend, weil ich sie wieder mit unserem Unglück belasten muß.«
»Es ist ihr Job«, gab ich zu bedenken.
Sie schaute mich an, als hätte ich etwas Schlimmes gesagt.
»Ich bin sicher, für sie ist es mehr als nur ein Job.«
»Ja, bestimmt.« Ich bemerkte, daß ich immer noch den Stoffhasen in der Hand hielt. Ich streichelte ihm noch einmal den Bauch und stellte ihn auf die Fensterbank zurück. Cindy schaute mir dabei zu und spielte mit ihrem Zopf.
»Tut mir leid, daß ich so aufbrausend war, aber was Sie eben gesagt haben - daß Dr. Eves nur tut, was ihr Job von ihr verlangt -, hat mich daran erinnert, wie sehr ich in meinem Job, als Mutter, versage. Aber wer sollte einem das auch beibringen?«
»Was Sie im Moment durchmachen, hat wenig mit normalen Mutterpflichten zu tun«, versuchte ich sie zu trösten, worauf sie mit einem flüchtigen, traurigen Lächeln reagierte. Das Lächeln einer Madonna.
Und diese Madonna sollte ein Ungeheuer sein? Stephanie hatte mich gebeten, ohne Vorurteile an den Fall heranzugehen, doch mir war klar, daß ihr Verdacht mein Ausgangspunkt war, ob ich wollte oder nicht.
Bis jetzt konnte ich nichts offensichtlich Krankhaftes feststellen. Keine Anzeichen emotionaler Labilität, keine offene Affektiertheit, kein pathologisches Heischen nach Aufmerksamkeit. Und doch fragte ich mich, ob es ihr auf ihre stille, unauffällige Art nicht gelungen war, sich in den Mittelpunkt zu rücken. Zu Beginn hatte sie über Cassie geredet, doch am Ende ging es um ihr Versagen als Mutter.
Schon wie sie sich präsentierte - der Zopf, den sie wie einen Rosenkranz befingerte, das ungeschminkte Gesicht, die für ihre gesellschaftliche Stellung auffällig einfache Kleidung. Man konnte es als eine Dramaturgie der Gegensätze betrachten: Unter ihresgleichen würde sie ohne Zweifel auffallen.
Es gab noch mehr Dinge, die sich in meinem analytischen Netz verfingen, wenn ich das typische Profil eines Stellvertreter-Münchhausen heranzog. Zum Beispiel ihr flüssiger Gebrauch des Krankenhausjargons. Doch vielleicht hatte sie nur zuviel Zeit auf dieser Station verbracht. In meiner Zeit im Krankenhaus hatte ich Klempner, Hausfrauen, Lastwagenfahrer und Buchhalter getroffen, die sich wie Assistenzärzte im ersten
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