Exit
Jahr anhörten: alles Leute, die bei ihren chronisch kranken Kindern im Krankenhaus schliefen, aßen und lebten. Keiner von ihnen hatte seine Kinder vergiftet.
Cindy spielte mit ihrem Zopf und schaute mich an. Ich versuchte ein ermutigendes Lächeln, während ich mich fragte, wieso sie sich so sicher war, sie hätte eine Verbindung zu Cassie, die an Telepathie grenzte.
Handelte es sich vielleicht um eine Auflösung der Identitätsgrenzen, um jene Art von krankhafter Überidentifikation, die zu Kindesmißhandlung führen kann? Andererseits: Welche Mutter behauptet nicht, und oft zu Recht, sie habe eine radarartige Verbindung zu ihrem Baby? Warum sollte man also in diesem speziellen Fall gegen die Mutter einen solch furchtbaren Verdacht hegen?
Weil die Kinder dieser Mutter kein gesundes, glückliches Leben führten.
Cindy schaute mich immer noch an. Ich wußte, daß ich nicht weiter den Unbefangenen mimen konnte, während ich solche Gedanken durchspielte. Ich blickte zu dem kleinen Mädchen hinüber, wie es in seinem Bettchen lag, makellos wie eine Porzellanpuppe. Oder benutzte die Mutter sie als Voodoo-Puppe?
»Sie tun Ihr Bestes«, sagte ich und hoffte, überzeugter zu klingen, als ich war. »Mehr kann niemand von Ihnen verlangen.« Bevor Cindy etwas sagen konnte, öffnete Cassie die Augen, gähnte, rieb sich das Gesicht und setzte sich benommen auf. Beide Hände waren nun auf der Bettdecke. Jene, die vorher nicht zu sehen war, war geschwollen, gelb und voller Einstichnarben.
Cindy ging rasch zu ihr hinüber und hob sie aus dem Bett.
»Guten Morgen, mein Baby.« In ihrer Stimme schwang nun ein ganz anderer Ton. Sie küßte Cassie auf die Wange. Cassie schaute zu ihr auf und legte den Kopf an ihre Brust, dann gähnte sie noch einmal und schaute sich um, bis ihr Blick auf die Häschen auf ihrem Nachttisch fiel. Sie zeigte mit dem Finger darauf und jammerte verlangend.
Cindy nahm eins von den Stofftieren, ein rosafarbenes.
»Hier, mein Kind. Das Häschen sagt: ›Guten Morgen, Fräulein Cassie Jones. Hast du schön geträumt?‹«
Sie sprach wie ein Showmaster im Kinderprogramm.
Cassie drückte den Hasen an ihre Brust und schloß die Augen. Einen Moment lang dachte ich, sie wäre wieder eingeschlafen, doch da öffneten sich die Augen wieder, groß und braun, wie die ihrer Mutter.
Dann trafen sich unsere Blicke. Ich lächelte.
Sie schrie.
5
Cindy wiegte sie im Arm und sagte: »Es ist alles in Ordnung, er ist unser Freund.«
Cassie warf den Hasen auf den Boden und weinte ihm nach. Ich hob ihn auf und hielt ihn ihr hin, doch sie zuckte zurück und klammerte sich an ihre Mutter. Ich überließ Cindy den rosa Hasen, nahm mir ein gelbes Exemplar aus dem Regal und setzte mich wieder.
Ich begann, mit dem Stofftier zu spielen, bewegte seine Arme und redete mit ihm. Cassie weinte immer noch, und Cindy versuchte sie zu beruhigen, indem sie ihr sanft auf den Rücken klopfte. Ich beschäftigte mich weiter mit dem Häschen, und nach etwa einer Minute ließ Cassies Schreien etwas nach.
»Schau nur, mein Liebling«, sagte Cindy, »siehst du? Dr.
Delaware mag die Häschen auch gern.«
Cassie schluckte, holte Luft und schrie von neuem.
»Nein, er wird dir nicht weh tun. Er ist unser Freund.«
Ich betrachtete die vorstehenden Zähne des Stofftiers und schüttelte eine seiner Pfoten. Auf einem Etikett unter seinem Bauch las ich: MADE IN TAIWAN.
Cassie machte wieder eine Atempause.
»Es ist alles in Ordnung, mein Schatz, du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Cindy.
Als Antwort hörte ich Schluchzen und Schniefen. Cindy legte ihr Kind ins Bett zurück.
»Wie war's mit einer Geschichte? Es war einmal eine Prinzessin mit Namen Cassandra. Die lebte in einem großen Schloß und hatte wundervolle Träume über Süßigkeiten und Wolken aus Schlagsahne …«
Cassie schaute sie an. Mit der wunden Hand berührte sie ihre Lippen.
Ich setzte den gelben Hasen auf den Fußboden, öffnete meinen Aktenkoffer und nahm ein Notizbuch und einen Bleistift heraus. Cindy hörte einen Augenblick auf zu sprechen, bevor sie fortfuhr mit ihrer Geschichte. Cassie war nun ruhig, ihre Gedanken in einer anderen Welt.
Ich begann zu zeichnen. Es sollte ein Hase werden, so hoffte ich.
Nach ein paar Minuten war klar, daß kein Disney-Zeichner etwas von mir zu befürchten hätte, doch mein Werk sah trotzdem süß aus und einem Hasen nicht ganz unähnlich. Ich fügte noch einen Hut und eine Fliege hinzu, bevor ich in dem Koffer nach bunten
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