Exit
Filzschreibern kramte, die zu dem Material gehörten, das ich immer bei mir hatte. Dann machte ich mich daran, meine Zeichnung auszumalen.
Die Filzstifte quietschten, im Bett hörte ich es rascheln.
Cindy unterbrach ihre Geschichte.
»O sieh nur, mein Schatz, Dr. Delaware zeichnet etwas? Was zeichnen Sie denn da, Dr. Delaware?«
Bevor ich antworten konnte, rief das Wort »Doktor« einen weiteren Tränenschwall hervor, den die Mutter aber schnell zu stoppen wußte.
»Sieh nur, ein Häschen. Und es trägt einen Hut und eine Fliege. Ist das nicht süß?«
Keine Reaktion.
»Na, ich find es jedenfalls süß. Meinst du, es ist eins von deinen, Cassie?«
Die Kleine schluchzte.
»Na komm schon, Cassie, du brauchst keine Angst zu haben. Dr. Delaware wird dir bestimmt nicht weh tun. Er ist ein Doktor, der nie Spritzen gibt.«
Diesmal dauerte es eine Zeitlang, bis Cindy sie beruhigen konnte. Schließlich gelang es ihr, mit ihrer Geschichte weiterzumachen. Prinzessin Cassandra reitet auf einem Schimmel…
Ich zeichnete eine Spielgefährtin für meinen Hasen. Sie hatte dieselben Nagezähne, aber kürzere Ohren und ein gestreiftes Kleid. Ich zeichnete noch eine unförmige Eichel dazu, riß das Blatt aus meinem Buch und legte es ins Bett ne ben Cassies Füße. Sie warf ihren Kopf herum, doch da saß ich schon wieder auf meinem Stuhl.
»O schau nur«, sagte Cindy, »jetzt hat er auch noch ein - Eichhörnchen gemalt. Und es ist ein Mädchen - siehst du ihr Kleid? Wie lustig es aussieht, all diese Streifen. Ist das nicht lustig, Cassie, ein Eichhörnchen in einem Kleid?«
Sie lachte, und nach einer Weile kicherte das Baby mit ihr.
Ich war inzwischen mit meinem nächsten Werk fertig, einem Nilpferd. Ich legte den Zettel auf die Bettdecke.
»Also, Cassie, schau dir das an. Wir wissen, was das ist, nicht wahr? Ein Nilpferd. Und es hat ein …«
»Ein Jo-Jo«, half ich aus.
»Es hat ein Jo-Jo in der Hand! Ein Nilpferd mit einem Jo-Jo - das ist aber wirklich lustig. Weißt du, was ich glaube, Cassie? Ich glaube, Dr. Delaware kann ganz schön lustig sein, wenn er will, obwohl er ein Doktor ist. Was meinst du?«
Ich schaute das kleine Mädchen an. Unsere Blicke trafen sich, und ihre Augenlider zitterten, die rosigen Lippen schürzten sich. Schwer vorzustellen, daß jemand diesem Geschöpf etwas zuleide tun konnte.
»Möchtest du, daß ich noch mehr zeichne?« fragte ich sie.
Sie schaute ihre Mutter an und klammerte sich an ihren Ärmel.
»Natürlich«, sagte Cindy. »Wir willen doch mal sehen, was für verrückte Sachen Dr. Delaware noch malen kann, nicht wahr, Cassie?«
Cassie nickte kaum sichtbar und vergrub ihr Gesicht in Cindys Bluse.
Also: zurück an die Staffelei.
Einen räudigen Hund, eine schielende Eule und ein klappriges Pferd später konnte sie sich mit meiner Anwesenheit abfinden.
Ich schob den Stuhl allmählich näher ans Bett und plauderte mit Cindy über Spielzeug und Cassies Lieblingsessen. Bald saß ich in Reichweite der Matratze und benutzte sie als Unterlage, als ich Cindy ein Zeichenspiel zeigte, in dem die beiden Spieler abwechselnd das Gekritzel des anderen zu einer Figur vollenden. Mein Vorgehen entsprach kinderpsychologischer Methodik und hatte das Ziel, eine Verbindung zur Patientin herzustellen und zu ihrem Unterbewußtsein vorzudringen, ohne als Bedrohung zu erscheinen.
Während ich Cassie studierte, nein, während ich sie ausforschte, benutzte ich Cindy als Vermittlerin zwischen mir und ihrer Tochter.
Ich war dazu ausgebildet worden, an eine offene und ehrliche Beziehung zwischen Patient und Therapeut zu glauben. Hier in diesem Zimmer kam ich mir nun vor wie ein Betrüger.
Doch dann dachte ich wieder an rasende Fieber, blutigen Durchfall und Krämpfe, die so stark waren, daß das Kinderbett wackelte. Ich erinnerte mich an den kleinen Jungen, der in der Wiege gestorben war, und erkannte, wie abgestanden und nichtig meine Selbstzweifel waren.
Um Viertel vor elf - ich hatte über eine halbe Stunde mit ihnen verbracht, und Cassie hatte sich an mich gewöhnt, sogar ein oder zweimal gelächelt - war es Zeit, die Malsachen einzupacken und mich siegreich zurückzuziehen.
Ich stand auf. Cassie wurde unruhig. Sie zeigte auf den Fußboden und stammelte: »Rau, rau, rau!«
»Du möchtest raus?«
Sie nickte nachdrücklich: »Aus!«
Sie kniete auf der Matratze und machte einen wackligen Stehversuch. Die Matratze war ein wenig zu weich; Cindy griff ihr unter die Arme, hob sie aus dem Bett und
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