Exit
stellte sie auf den Fußboden. Aufrecht stehend sah sie noch winziger aus. Winzig, aber robust. Ihre Schritte waren sicher, sie zeigte einen guten Gleichgewichtssinn.
Als ich meinen Aktenkoffer vom Sofa nahm, betrat ein Mann das Zimmer. Er war etwa Ende Dreißig, groß und sehr schlank. Sein dunkelbraunes, dicht gewelltes Haar war zurückgekämmt und bedeckte den Kragen. Die Fülle seines Gesichts, verstärkt noch durch einen graumelierten Vollbart, stand in Kontrast zu seiner schlaksigen Figur. Das linke Ohrläppchen war durchbohrt, er trug einen goldenen Ohrring. Seine Kleidung war leger, aber gut geschnitten: schwarze Cordhose und blau-weiß gestreiftes Hemd unter einem grauen, sportlichen Tweedmantel; dazu schwarze, offenbar brandneue Schuhe.
»Da kommt Papa!« rief Cindy.
Cassie streckte die Arme nach ihm aus.
Er setzte die Tasse Kaffee ab, die er mitgebracht hatte, und sagte: »Guten Morgen, meine Damen.« Er küßte Cindy auf die Wange und hob Cassie hoch über seinen Kopf.
Das kleine Mädchen quiekte, als er sie hochhielt. Mit Schwung ließ er sie herunter und drückte sie an sich. Cassie zog mit beiden Händen an seinen Haaren und kicherte, während Cindy uns vorstellte.
»Das ist Dr. Delaware, Liebling, der Psychologe. Dr. Delaware, Cassies Vater.«
Er gab mir seine freie Hand. »Chip Jones. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Sein Händedruck war kräftig. Cassie zerrte immer noch an seinem Haar, was ihn nicht zu stören schien.
»Psychologie war mein Nebenfach«, sagte er lächelnd, »das meiste hab ich aber vergessen.« Dann, an Cindy gewandt: »Wie sieht's aus?«
»Unverändert.«
Er runzelte die Stirn und schaute auf die Uhr. Noch eine Swatch.
»In Eile?« fragte Cindy.
»Leider ja. Ich wollte nur kurz eure Gesichter sehen.« Er bot ihr die Tasse Kaffee an.
»Nein, danke.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Ich fühl mich ein bißchen schwummrig. Wie lang kannst du bleiben?«
»Ich muß gleich wieder weg«, antwortete er, »um zwölf hab ich ein Seminar und danach für den Rest des Tages Besprechungen - vielleicht war es Blödsinn, die ganze Strecke zu fahren, aber ich habe euch so vermißt. Ich versuche, heute abend noch einmal vorbeizukommen. Dann kann ich bleiben, solange ihr mich braucht.«
»Schön«, sagte Cindy. »Dr. Delaware sagt, er kennt Methoden, mit denen er Cindy helfen kann, mit den Schmerzen fertig zu werden.«
Chip schaute mich an, während er Cindys Arm streichelte.
»Das wäre großartig. Sie hat unglaubliche Qualen hinter sich.« Seine schieferblauen Augen blickten leicht melancholisch aus auffällig tiefen Höhlen.
»Das weiß ich«, sagte ich. Chip und Cindy wechselten Blicke. »Ich mache mich jetzt davon. Morgen früh komme ich wieder.« Ich beugte mich zu Cassie hinunter und flüsterte ihr einen Abschiedsgruß zu. Sie klimperte mit den Wimpern und wandte sich ab.
»Seht nur, wie sie flirtet!« lachte Cindy. »Das muß wohl angeboren sein.«
»Ihre Methoden«, fragte mich Cindy, »wann können wir die besprechen?«
»Bald. Doch zuerst muß ich eine Verbindung zu Cassie herstellen. Ich glaube, da sind wir heute schon ein gutes Stück vorangekommen.«
Ich ging zur Tür.
»Ich muß auch gleich gehen, Doktor«, hielt Chip mich zurück. »Wenn Sie einen Augenblick warten, können wir gemeinsam den Lift nehmen.«
»Kein Problem.«
Er nahm Cindys Hand.
Ich schloß die Tür hinter mir und ging den Gang hinunter, hinter den Stationsschalter. Vicki Bottomley war inzwischen vom Geschenkladen zurück und saß auf dem Stuhl der Sekretärin, vertieft in ein Schwesternmagazin. Auf dem Schreibtisch lag ein Päckchen im krankenhauseigenen Geschenkpapier.
Sie schaute nicht auf, als ich Cassies Akte aus dem Regal nahm und darin zu blättern begann. Ich überflog die Krankengeschichte und stieß auf Stephanies Darstellung des Familienhintergrunds. Ich fragte mich, welcher Altersunterschied wohl zwischen Chip und Cindy bestand, und schaute in seine persönlichen Daten: Charles L. Jones III. Alter: 38. Akademischer Grad: Magister. Beruf: Collegeprofessor.
Ich spürte, daß mich jemand anschaute, ließ die Akte sinken und sah gerade noch, wie Vickis Kopf sich hastig drehte und wieder dem Magazin zuwandte.
»Haben Sie gefunden, was Sie suchten, unten im Geschenkladen?«
Sie antwortete nicht, sondern fragte unumwunden: »Wollen Sie was Bestimmtes von mir?«
»Alles, was mir bei Cassies Behandlung helfen könnte, wäre mir recht.«
Ihre schönen Augen verengten sich.
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