Exodus
Straßen mit alten, fünfstöckigen Backsteinhäusern. Überall waren zahllose Radfahrer unterwegs, und auf dem riesigen Fischmarkt am GammelStrand herrschte solcher Betrieb, daß der Fischmarkt von Aalborg dagegen gar nichts war.
Die Krönung von allem aber bildete das Tivoli mit seinen Anlagen und Blumenbeeten, seiner abendlichen Lichterfülle, seinen Rutschbahnen, Schaukeln und Karussells, dem Kinderorchester und dem Wivex-Restaurant, mit Feuerwerk und Gelächter. Karen verstand bald gar nicht mehr, wie sie es überhaupt fertiggebracht hatte, irgendwo anders zu leben als in Kopenhagen.
Eines Tages kam Karen die Straße herunter nach Hause gelaufen. Sie rannte die Treppe hinauf und riß die Wohnungstür auf, stürzte auf Aage zu und umarmte ihn.
»Pappi! Pappi! Pappi!«
Sie zog ihn vom Stuhl hoch und tanzte um ihn herum. Dann ließ sie ihn verdutzt mitten im Zimmer stehen, tanzte um die Möbel herum, kam zu ihm zurück und warf von neuem die Arme um ihn. Meta erschien an der Tür und lächelte.
»Deine Tochter versucht dir mitzuteilen, daß sie beim Königlichen Ballett angenommen ist.«
»So?« sagte Aage. »Na, das ist ja schön.«
Abends, als Karen schlief, konnte Meta, die schrecklich stolz war, Aage gegenüber endlich ihrem Herzen Luft machen.
»Soviel Talent wie Karen hat, sagte man mir, gäbe es unter tausend Mädchen nur einmal. Nach fünf bis sechs Jahren intensiver Ausbildung könnte sie ganz große Klasse werden.«
»Freut mich — freut mich wirklich«, sagte Aage, der versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie stolz er war.
Doch nicht alles in Kopenhagen war Heiterkeit und Märchenland. Nacht für Nacht erzitterte die Erde von Explosionen, Sprengungen der Widerstandsbewegung, deren Blitze die Nacht erhellten, und die Luft war erfüllt von lodernden Flammen, vom Krachen der Gewehrschüsse, dem Hämmern der Maschinengewehre.
Sabotage!
Vergeltungsmaßnahmen!
Die HIPOS begannen, systematisch Orte und Dinge zu zerstören, die den Dänen lieb und teuer waren. Dänische Nazi-Terroristen sprengten Theater in die Luft, Brauereien und Vergnügungsstätten. Die dänische Widerstandsbewegung schlug zurück und führte Sprengungen in Betrieben aus, die für die deutsche Rüstung arbeiteten. Bald verging kein Tag und keine Nacht, in denen man nicht den Donner der Explosionen vernahm.
Bei den Paraden der Deutschen waren die Straßen leer. Wenn die Deutschen sich in der Öffentlichkeit produzierten, blieben die Dänen in ihren Häusern. Doch an jedem dänischen Nationalfeiertag drängte sich die schweigende Menge der Leidtragenden auf den Straßen. Und der tägliche Ausritt des alten Königs rief eine vielhundertköpfige Menge auf den Plan, die den König mit lauten Zurufen begrüßte und neben ihm herlief.
Die Spannung wuchs und wuchs, bis sie sich schließlich entlud. Am
Morgen des 29. August 1943 erfolgte eine Detonation, die über ganz Seeland hin zu hören war: die dänische Flotte hatte sich selbst versenkt, um den Seeweg vollkommen zu blockieren! Die ergrimmten Deutschen marschierten zum Regierungsgebäude und zum königlichen Schloß Amalienborg. Die königliche Wache trat ihnen entgegen. Es entspann sich ein erbittertes Gefecht, doch nach kurzer Zeit war alles vorbei. Statt der königlichen Wache zogen deutsche Soldaten vor dem Schloß in Amalienborg auf. Eine ganze Anzahl deutscher Generäle und hoher SS-Funktionäre erschien in Dänemark, um die Dänen »auf Vordermann zu bringen«. Das dänische Parlament wurde aufgelöst, und es erging eine Reihe scharfer Erlasse. Das Musterprotektorat hatte aufgehört, ein »Muster« zu sein, sofern es das überhaupt jemals gewesen war.
Die Dänen beantworteten die Maßnahmen der Deutschen mit gesteigerter Sabotage. Waffen- und Munitionslager, Fabriken und Brücken wurden in die Luft gejagt. Die Deutschen wurden allmählich nervös. Die Sabotage der Dänen begann sich empfindlich bemerkbar zu machen.
Vom deutschen Hauptquartier im Hotel d'Angleterre erging die Verordnung: ALLE JUDEN HABEN EINE GELBE ARMBINDE MIT DEM JUDENSTERN ZU TRAGEN.
In der Nacht darauf übertrug der illegale Sender eine Botschaft an das dänische Volk: »König Christian hat von Schloß Amalienborg aus auf die deutsche Anordnung, alle Juden hätten einen Judenstern zu tragen, die folgende Antwort erteilt. Der König hat erklärt, daß es zwischen einem Dänen und einem Dänen keinerlei Unterschied gäbe. Er selbst wird als erster den Davidstern tragen, und er erwartet, daß
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