Exodus
ausleihst?«
Darüber mußte Karin nachdenken. Ihr schien, Aage hatte noch irgendwelche anderen Gründe. Seine Frage hatte diesen besonderen Ton gehabt, hatte so erwachsen geklungen — genau wie bei Mammi und Pappi, wenn sie hinter geschlossenen Türen miteinander geredet hatten. Dann nickte sie und sagte, ja, das wäre ihr auch recht.
»Schön! Dann heißt du jetzt also Karen Hansen.«
Aage und Meta nahmen sie bei der Hand, wie sie das jeden Abend taten, brachten sie in ihr Zimmer und machten die kleine Lampe an. Aage spielte mit ihr und kitzelte sie, und Maximilian sprang aufs Bett und tobte mit. Karen lachte, bis sie nicht mehr konnte, dann schlüpfte sie unter die Bettdecke und sagte ihr Abendgebet. »— und behüte Mammi und Pappi und Hans und mein kleines Brüderchen, und alle meine Onkel und Tanten und Vettern und Kusinen — und auch die Hansens, die so nett zu mir sind — und die beiden Maximilians.«
»Ich komme gleich und setze mich an dein Bett«, sagte Meta.
»Das ist nicht nötig. Du brauchst jetzt nicht mehr bei mir zu sitzen. Maximilian paßt auf mich auf.«
»Gute Nacht, Karen.«
»Sag mal, Aage, sind die Leute in Dänemark auch so böse auf die Juden?«
Meine liebe Frau Clement, verehrter Herr Professor, ist es wirklich schon sechs Wochen her, daß Karen zu uns kam? Sie ist ein erstaunliches Kind. Ihre Lehrerin hat uns erzählt, daß sie sich in der Schule sehr gut macht. Es ist kaum zu glauben, wie schnell sie Dänisch lernt. Wahrscheinlich kommt das daher, daß sie mit Gleichaltrigen zusammen ist. Sie hat schon viele Freundinnen hier. Der Zahnarzt riet uns, einen Zahn ziehen zu lassen, um Platz zu machen für einen neuen. Es war nicht weiter schlimm. Wir möchten gern, daß Karen Musikstunden bekommt, und werden Ihnen darüber noch genauer schreiben.
Jeden Abend schließt sie in ihr Gebet ...
Und dabei lag ein Brief von Karen, in Blockschrift:
LIEBE MAMMI, PAPPI, HANS, MAXIMILIAN, UND MEIN NEUES BRÜDERCHEN, ICH HABE SOLCHE SEHNSUCHT NACH EUCH, WIE ICH EUCH GAR NICHT SAGEN KANN —. Im Winter läuft man Schlittschuh auf dem Eis des Limfjords, baut Schneemänner und rodelt, und dann sitzt man am knisternden Kamin, und Aage reibt einem die eiskalten Füße.
Doch der Winter verging, der Limfjord taute auf, und das Land wurde grün und blühte. Und als der Sommer kam, fuhren alle an die Nordsee, nach Blockhus, und Karen fuhr mit Meta und Aage im Segelboot hundert Meilen weit hinaus auf das Meer.
Das Leben bei Hansens war schön und abwechslungsreich. Karen hatte eine Menge ,bester' Freundinnen, und sie fand es wunderbar, mit Meta zum Einkaufen auf den Fischmarkt zu gehen, wo es nach allem möglichen roch, oder mit ihr in der Küche zu sein und zuzusehen, wie man einen Kuchen bäckt. Und Meta konnte einem gut helfen bei so vielen Dingen, beim Nähen oder bei den Schularbeiten, und sie war ein so wunderbarer Trost, wenn Karen mal mit Fieber oder Halsschmerzen im Bett liegen mußte.
Aage hatte immer ein Lächeln für sie und offene Arme, und er schien beinah genauso klug und freundlich zu sein wie ihr richtiger Pappi. Aage konnte auch mächtig streng sein, wenn es mal nötig war.
Eines Tages, als Karen gerade zum Tanzunterricht war, rief Aage zu Hause an und bat Meta ins Büro zu kommen.
»Ich habe eben Nachricht vom Roten Kreuz bekommen«, sagte er zu seiner Frau. Er war sehr erregt, und sein Gesicht war blaß. »Sie sind alle miteinander verschwunden. Spurlos. Die ganze Familie. Ich habe alles versucht, aber ich bekomme keinerlei Auskunft aus Deutschland.«
»Und was vermutest du, Aage?«
»Was gibt es da zu vermuten? Man hat sie alle in ein Konzentrationslager gebracht — oder an einen noch schlimmeren Ort.«
»Oh, mein Gott!«
Sie brachten es nicht übers Herz, Karen zu erzählen, daß ihre ganze Familie verschwunden war. Karen schöpfte Verdacht, als keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, doch sie hatte zu große Angst, Fragen zu stellen. Sie liebte die Hansens und vertraute ihnen blind. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre guten Gründe haben mußten, wenn sie Karens Familie mit keinem Wort mehr erwähnten.
Außerdem geschah etwas Sonderbares. Gewiß, Karen hatte Sehnsucht nach ihren Eltern und Geschwistern, doch allmählich schien das Bild ihrer Mutter und ihres Vaters mehr und mehr zu verblassen. Wenn ein achtjähriges Kind so lange von seinen Eltern getrennt ist, dann wird es immer schwerer, sich an sie zu erinnern. Karen war manchmal traurig, daß sie sich nicht
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