Exodus
anderen Landaus und den drei Mitgliedern von Jans Familie teilten. Offenbar aber hatte das junge Paar es doch fertiggebracht, irgendwann und irgendwo allein zu sein, denn im Frühling erwartete Ruth ein Kind.
Als Führer der Bauleute war es eine der wichtigsten Aufgaben Mundeks, den Kontakt mit der Welt außerhalb des Ghettos aufrechtzuerhalten. Das konnte man machen, indem man die polnischen und die litauischen Posten an den Toren bestach. Mundek war jedoch der Ansicht, das Geld müsse für wichtigere Dinge gespart werden. Daher erkundete man die Möglichkeiten, »unter der Mauer hindurch« aus dem Ghetto hinaus und ins Ghetto hereinzukommen: durch die Abwasserkanäle.
Es war höchst gefährlich, die Stadt zu betreten. Es gab ganze Banden polnischer Strolche, die beständig nach Juden Ausschau hielten, die sich aus dem Ghetto herausgeschlichen hatten, um sie zu erpressen oder der Polizei zu übergeben und die dafür ausgesetzte Belohnung einzustreichen. Die Bauleute hatten auf diese Weise schon fünf ihrer Mitglieder verloren. Der letzte, der von polnischen Gangstern dem SD ausgeliefert und gehängt worden war, war Jan gewesen, Ruths Mann.
Der kleine Dov war schlau und kannte die Schliche, die man kennen mußte, um sich am Leben zu erhalten. Er ging zu seinem Bruder Mundek und bat ihn, man möge doch ihn mit der Aufgabe betreuen, als Kurier durch den Kanal zu gehen. Mundek wollte zunächst nichts davon hören, doch Dov ließ nicht locker. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen sah er von ihnen allen am wenigsten wie ein Jude aus. Er war noch so jung, daß man bei ihm kaum Verdacht schöpfen würde. Mundek wußte, daß Dov das Zeug dazu hatte, doch er brachte es nicht übers Herz, seinen kleinen Bruder einer solchen Gefahr auszusetzen. Als Mundek dann aber innerhalb weniger Tage auch noch den sechsten und siebenten Kurier einbüßte, beschloß er, es mit Dov zu versuchen. Mundek sagte sich außerdem, daß sie alle miteinander ohnehin Tag für Tag in Lebensgefahr waren. Lea verstand ihn. Dov erwies sich als der beste Kurier des ganzen Ghettos. Er erkundete ein Dutzend verschiedener Wege, um »unter der Mauer« in die Stadt und von der Stadt ins Ghetto zu gelangen. Er wurde heimisch in den unterirdischen Gängen und in dem schlammigen, stinkenden, fauligen Wasser, das unterhalb von Warschau floß. Jede Woche machte Dov den Weg durch die schwarze Nacht des Kanals und den schlammigen Dreck, der ihm bis an die Schultern ging. War er erst einmal »unter der Mauer« aus dem Ghetto heraus, so begab er sich auf die Zabrowska 99, wo eine Frau wohnte, von der er nur wußte, daß sie Wanda hieß. Nachdem er sich bei ihr sattgegessen hatte, machte er sich auf den Rückweg und stieg wieder hinunter in den Kanal, beladen mit Pistolen, Munition, Geld, Radioteilen, mit Nachrichten aus anderen Ghettos und von den Partisanen.
In der Zwischenzeit hielt sich Dov am liebsten im Hauptquartier der Bauleute auf, wo Mundek und Rebekka den größten Teil ihrer Zeit verbrachten. Rebekka war damit beschäftigt, Ausweise und Pässe zu fälschen. Dov sah ihr dabei zu und fing bald an, ihr bei der Arbeit zu helfen. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, daß Dov eine außerordentliche Begabung für Nachahmungen besaß. Er hatte scharfe Augen und eine sichere Hand, und im Alter von zwölf Jahren entwickelte er sich rasch zu dem besten Fälscher, den die Bauleute hatten.
Im Juni 1942 unternahmen die Deutschen einen entscheidenden Schritt zur »Endlösung« des jüdischen Problems. Sie errichteten mehrere Lager zur Liquidierung der jüdischen Bevölkerung. Um mit den Juden im Gebiet von Warschau fertigzuwerden, errichtete man an einer abgelegenen Stelle, einem Ort namens Treblinka, auf einem abgegrenzten Gelände von dreiunddreißig Morgen ein Lager, dessen zwei Hauptgebäude dreizehn Gaskammern enthielten. Außerdem gab es dort Unterkünfte für Arbeiter und das deutsche Lagerpersonal, und riesige Flächen, die für das Verbrennen der Leichen vorgesehen waren. Treblinka, eines der ersten dieser Lager, war nur ein Vorläufer späterer Lager größeren Umfangs.
Der Juli bringt einen Tag der Trauer für alle Juden. Vielleicht war an diesem Tag des Jahres 1942 die Trauer der Juden, die im Warschauer Ghetto oder einem anderen Ghetto in Polen lebten, noch tiefer als die Trauer der Juden in anderen Ländern. Es war Tischa Be'Aw, der Tag, an dem die Juden der Zerstörung des Tempels in
Jerusalem durch die Babylonier und die Römer
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