Exodus
später, als wir schon verdammt viele waren, meldeten wir uns wieder zum Tag der Arbeit. Die Organisatoren und die Alten waren ziemlich baff, als inmitten dieses Karnevals plötzlich ein Haufen Leute in Schwarz unter schwarz-roten Flaggen auftauchte. Auch die Miliz war nicht darauf vorbereitet und trieb uns nicht einmal auseinander – damals marschierten zum ersten Mal Anarchisten zum Kreml.
4 – Wir fuhren nicht nur zu Konzerten in andere Städte, sondern auch zu Fußballspielen. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gab es nur zwei Fußballmannschaften, deren Fans Antifaschisten waren: Arsenal Kiew und MTZ Partizan aus Minsk. Wir knüpften schnell Kontakt und fuhren ständig zu ihren Spielen, um bei der Verteidigung gegen die Massen wütender Nazis zu helfen, die Fans aller anderen Mannschaften. Das war sehr lustig und hatte Zunder – bis zum Spiel schafften wir es normalerweise nicht. Auch damals, am 9. Mai 2006, kamen wir nicht bis zum Stadion.
5 – Als wir anfingen Hardcore-Punk zu hören, merkten wir, dass es in Moskau schon eine Szene gab, dass man die Musik nicht nur auf Kassetten hören, sondern auch auf richtige Konzerte gehen konnte. Wir freuten uns total und besuchten eines. Wir waren schockiert, dass es sich in keiner Hinsicht von einer dieser Schuldiscos unterschied, zu denen wir nie gingen. Da gab es modisch gekleidete Jungs und ihre Freundinnen, alles fand in einer Heavy Metal-Bar statt, der Wachschutz war ein Bulle, und das schlimmste: Es gab einen Haufen Nazis, die ebenfalls modisch und freundlich waren. Die standen da alle im Saal rum und tranken ihr Bierchen. Wir kapierten es nicht und gaben gleich einem eins aufs Maul – die Musik war übrigens auch mies.
Danach versuchten wir, unsere eigene Hardcore-Punk-Szene aufzubauen, wir organisierten Konzerte in verfallenen Kinos, Dorfgaststätten, in Kellern von Hochhäusern. Für einige Zeit hatten wir sogar so eine Art eigenen Klub – einen heruntergekommenen Bunker aus dem Kalten Krieg mitten im Wald. Er war überschwemmt, also legten wir ihn trocken und schlossen ihn ans Stromnetz an – fortan fanden alle unsere Konzerte zehn Meter unter der Erde statt, in einer riesigen, feuchten Betonhöhle. Dort vollzogen wir mitten in der Nacht unsere heiligen Handlungen, zuckten und krampften im Dreck, während einer ins Mikrophon brüllte.
6 – Ja, ja, das habe ich aus einem Film von Alain Resnais. Na und? Ich habe den Film mal als Kind gesehen, und das Stück hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt, es regte mich noch viele Jahre an. »Like a shark – got to get moving« ist noch ein Aphorismus aus dieser Serie, von Johnny Cash, der meine pubertäre menschenfeindliche Philosophie untermauerte. Ich weiß bis heute nicht, ob ich ihr entwachsen bin.
7 – In meinen ersten Tagen dort herrschte in Thessaloniki der totale Wahnsinn – alle haben alles demoliert. Das einzige Ziel der Polizei war, das Gebäude der Stadtverwaltung zu retten, indem sie Raketen mit Pfeffergas abfeuerte. Alle liefen mit neuen Smartphones rum und spielten auf dem Gehweg mit Notebooks, die sie im Media Markt geklaut hatten – in der Nacht stand das gesamte Zentrum in Flammen. Ein Bild ist mir aus dieser Nacht noch in Erinnerung: Ein Mann schleift eine riesige Jesus-Ikone (doppelt so groß wie ein Mensch) aus einem demolierten Laden neben einer Kirche und schleudert sie mit Schwung in die Flammen der brennenden Citybank.
Trotzdem hatte ich bald genug davon – irgendetwas fehlte. Das Chaos war zu raffgierig, zu sehr an Konsum interessiert. Es mangelte an Stil und Ausgelassenheit, wie wir es bei uns in Moskau kultiviert hatten. Das war keine Reinigung, keine Politik, das war reine Kriminalität. Nicht nur ich war unzufrieden: Einmal zog mich Chris, ein Kanadier, mit dem ich eine Villa besetzt hatte, zur Seite. »Ich hab eine Idee. Wir sollten einen Priester entführen. Davon gibt es hier Massen, und das Volk ist sehr religiös. Wir stellen unsere Forderungen, und dadurch wird der Protest sofort politisiert.« Ich bereitete mich zu dem Zeitpunkt gerade auf eine Tour durch die griechischen Klöster vor und lehnte den Vorschlag des Kanadiers ab.
8 – Noch eine Fahrt zu einem Konzert in der Provinz, wieder gab es von der ersten Minute an Schlägereien mit Nazis, die Geschichte endete mit einer gewaltigen Schlacht und einer lustigen Episode: In der morgendlichen Elektritschka trafen wir zufällig einen Anhänger unserer Bewegung, den wir überhaupt nicht kannten, obwohl es in
Weitere Kostenlose Bücher