Exponentialdrift - Exponentialdrift
Weihnachten ein Klassentreffen organisieren.«
»Schon wieder?« Die brummige Stimme von Onkel Lutz.
»Fünfundzwanzig Jahre seit dem Abitur. Kein schlechter Anlaß, oder?«
»Fünfundzwanzig?« Kurze Pause. »Stimmt. Nicht zu fassen, wie die Zeit vergeht.«
»Ich bin jedesmal fertig, wenn ich deine Kinder sehe, Peter, und wie sie wieder gewachsen sind.« Das war Onkel Wolfgang. »Der Lehnstuhl ist für mich, oder?«
»Alles wie immer«, sagte Papa. »Setzt euch. Yves, dein Whisky steht dort neben den Büchern. Genau.«
»Sag mal, ist der Entwurf da neu?«
»Na klar. Lutz, du bedienst dich?«
»Was wird’s diesmal? Wieder eine Zeitreisegeschichte?«
»Ich hab’ doch gesagt, ich schreibe keine Zeitreisegeschichten mehr. Wenn du den Aschenbecher suchst, Wolfgang, der ist unter dem Sessel.«
Die Tür wurde geschlossen, erst die äußere, die ein helles hölzernes Geräusch machte, dann die innere, gepolsterte, die mit sattem Schmatzen schloß. Papas Arbeitszimmer war schallisoliert, weil er Ruhe brauchte zum Schreiben, undvon außen konnte man an der Tür lauschen, wie man wollte, man hörte nicht, was darin gesprochen wurde. Anna lächelte triumphierend in ihrer Kiste.
»Tja, Peter. Erst mal auf dein Wohl. Und noch mal alles Gute zum Geburtstag.«
»Danke. Ehrlich gesagt, ohne unsere Treffen hätte ich längst aufgehört, ihn zu feiern.«
»Hört ihn euch an. Wird dreiundvierzig und kommt sich schon alt vor.« Gelächter. »Also, auf daß wir nie die Ideale unserer Jugend verlieren – das Ritual!«
Gläser klirrten. Papa räusperte sich vernehmlich. »Was werden wir vollbringen in unserem Leben?« fragte er.
»Die Menschheit zu einen und Frieden auf Erden«, erwiderten die anderen.
»Aus welchen drei Gründen werden wir’s schaffen?«
»Weil verschwiegen wir sind und einig und schlau«, sagte der Chor.
»Doch wird jemals jemand erfahren, wie alles gekommen?«
»Nein, niemals, niemand«, war die Antwort. Die Gläser klirrten noch einmal.
Anna erschauderte in ihrem Versteck. Das hatte so unheimlich feierlich geklungen, wie in einem Film, den sie mal gesehen hatte, über drei Musketiere, die eigentlich zu viert gewesen waren. Nur daß es etwas anderes war, so was in der Wirklichkeit zu hören, von Leuten, die man von kleinauf kannte.
»Also, zu Punkt eins der Tagesordnung. Wie immer, der Bernhard-Abel-Bericht.« Das klang jetzt wieder normal. »Wolfgang?«
»Er hält sich nach wie vor für einen Außerirdischen, macht den Haushalt und liest Zeitungen wie ein Besessener. Wobei ich seine Frau dieses Jahr erst einmal gesehen habe.«
»Yves, du hast ihn besucht.«
»Ja. Ich muß sagen, mir kam er völlig normal vor. Aber ich glaube auch, daß er sich an nichts erinnert. Zumindest an nichts Wesentliches. Er weiß, daß wir damals vor dem Flug im World Trade Center gegessen und uns unterhalten haben, aber nicht mehr, worüber. Daß es um ein Paßwort ging, wußte er noch, aber als ich nachgehakt habe, konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, daß er es war, der unsere Software damit blockiert hat.«
»Das hast du ihm aber nicht erzählt?«
»Also bitte ... Nein, ich habe nur harmlos gefragt, ob er es noch wisse, und er sagte nein und wollte wissen, was denn das für ein Paßwort gewesen sei.«
»Was soll’s?« So klang Onkel Lutz, wenn er schlechter Laune war. »Das ist doch alles Jahre her. Wir haben überall die Software ausgetauscht und brauchen Abels Paßwort nicht mehr. Wozu ihn weiter überwachen? Nur weil Wolfgang sich in seine Frau verliebt hat? Was ich übrigens immer noch für einen schweren Fehler und ein Risiko halte.«
»So etwas hat man nicht im Griff«, versetzte Onkel Wolfgang ärgerlich. »Das solltest du von uns allen am besten wissen.«
»Keinen Streit bitte. Damit haben wir schon genug Geburtstage verdorben.«
»Okay, okay. Aber wir können nun mal nicht ewig warten. Wenn je die Zeit war, zu handeln, dann jetzt. Ich sage, laßt uns einen Termin festsetzen und die Sache durchziehen.«
Zustimmendes Gemurmel.
»Gut und schön, aber denkt bitte daran, daß das, was wir vorhaben, der größte Bluff der Geschichte werden soll.« Das war jetzt die Stimme ihres Vaters. »Damit es klappt, darf nicht einmal der Hauch eines Verdachts aufkommen, daß etwas nicht stimmt. Wir haben bisher nur einen ernsten Fehler gemacht, und das war Bernhard Abel. Ich sage es ungern, aber mir wäre lieber gewesen, er wäre gestorben.«
Anna zuckte zusammen, und gleich darauf hielt sie
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