Extra scha(r)f
war Sasha nicht in einen schrecklichen Massenunfall auf der Autobahn verwickelt und sitzt im Rollstuhl, und natürlich stehe ich ihr nicht bei ihren ersten, zaghaften Gehversuchen bei, aber die Vorstellung, ich würde dies tun, erfüllt meine Eltern mit großem Stolz, was beweist, dass eine Lüge auch etwas Gutes haben kann.
»Mensch, Mädchen, du bist vierundzwanzig«, sagt Daniel. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb du noch zu Hause wohnst.«
Ich verstehe das durchaus. Weil es bequem ist und ich keine Miete zu zahlen brauche und weil ... ähm ... weil mein Vater mich eher umbringen würde, als mich gehen zu lassen - außer ich trage ein weißes Kleid mit einer sechs Meter langen Schleppe und werfe den Brautstrauß nach hinten, damit ihn meine jüngere Schwester fangen kann.
Das Telefon klingelt. Daniel, der sich gerade seine Jacke anzieht, meint: »Geh du dran.«
Ich hebe ab und sage: »Guten Abend, Sie sind mit The Zone verbunden. Sie sprechen mit Charlie. Was kann ich für Sie tun?« ... Falls Sie nach diesem Sermon noch dran sind.
Wir sind angewiesen, uns am Telefon so zu melden - das vierte Gebot. Mich wundert nur, dass wir nicht auch noch Uhrzeit, Datum, Außentemperatur sowie das komplette Kinoprogramm herunterspulen müssen, bevor der Anrufer die Chance erhält, etwas zu sagen.
»Hier spricht Julie Furmansky von Mission Management«, erwidert die Anruferin mit näselnder Stimme, die klingt, als sei die Frau entweder schlimm erkältet oder schlimm blasiert. »Kann ich bitte den Studiomanager sprechen?«
Das wäre die Furcht erregende Lydia - die gerade erst mit einem Gesicht wie drei Tage Donnergrollen vorbeigerauscht ist. Soll ich sie wirklich belästigen?
»Unsere Managerin ist leider schon weg«, entgegne ich. »Können Sie vielleicht morgen noch einmal anrufen?«
Eigentlich hätte ich sagen müssen: Kann ich Ihnen weiterhelfen ?, aber dann würde sie womöglich erwidern: Ja, können Sie und mich stundenlang aufhalten, wo ich doch endlich nach Hause möchte.
»Ich soll morgen wieder anrufen?«, sagt die Frau in einem Ton, als hätte ich sie gebeten, meine Toilette mit ihrer Zunge sauber zu lecken. »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«
»Nicht wirklich«, entgegne ich wahrheitsgemäß und unterdrücke dabei einen genervten Stoßseufzer.
»Ich betreue Blaize«, informiert sie mich. Drei Worte, die mich sofort hellhörig werden lassen.
Blaize ist eine ganz heiße Nummer. Bei den diesjährigen Smash Hits A wards hat sie die Titel beste Newcomerin, beste Single, bestes Video, beste Küsserin abgeräumt ... Den letzten Titel habe ich natürlich erfunden, aber gäbe es diese Kategorie tatsächlich, hätte sie darin ebenfalls gewonnen, jede Wette. Oh ja, Blaize ist momentan ganz groß im Kommen, und normalerweise wäre ich total aus dem Häuschen, dass ihre Managerin anruft ...
Aber ich will jetzt einfach nach Hause.
Also sage ich: »Tut mir Leid, aber unsere Studiomanagerin ist morgen früh ab halb acht wieder zu erreichen. Okay? Also, tschüss dann.« Ich sage das mit meiner freundlichsten Stimme, damit mir keiner vorwerfen kann, ich sei nicht hilfsbereit. Dann lege ich auf.
Als ich durch den Flur gehe, höre ich erneut das Telefon klingeln. Scheiß drauf Dieses Mal ignoriere ich es. Ich hole meine Jacke aus meinem Spind vor Lydias Büro heraus. Die Tür steht einen Spalt offen und ich höre, wie sie den Anruf entgegennimmt. Ich hoffe bloß, dass das nicht wieder die näselnde Managerin ist. Ich spitze die Ohren.
»Eine junge Frau, sagen Sie? Unhöflich und abweisend ...?«
Scheiße. Sie ist es doch ...
»... Nun, sie hat sich geirrt. Ich bin noch im Haus ...«
... Und ich bin am Arsch.
»... aber es ist mir scheißegal. Wiederhören.«
Lydia knallt den Hörer auf, und ich kann nicht glauben, was ich soeben gehört habe.
Lydia ist es scheißegal?
Normalerweise ist Lydia überhaupt nichts scheißegal. Nicht einmal der kleinste Scheiß. Ich spähe durch den Türspalt. Auf Lydias Schreibtisch steht ein Karton, in den sie gerade lauter Sachen packt.
Wirft sie etwa das Handtuch?
Das würde sie nie und nimmer tun.
Oder doch?
Gut, egal, wie Furcht erregend Lydia auch sein mag, egal, wie sehr ihr Schielen mir Kopfschmerzen verursacht, ich muss Gewissheit haben. Ich klopfe an ihre Tür und drücke sie auf. Lydia richtet den Blick auf mich (und auf das Regal links von mir), ohne ein Wort zu sagen. Ihr Gesicht sieht verheult aus.
»Entschuldige, dass ich störe, Lydia«, sage ich nervös,
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