Extra scha(r)f
»aber gerade eben hat die Managerin von Blaize angerufen. Ich dachte, du wärst schon nach Hause gegangen.«
Lydia bleibt nach wie vor stumm.
»Alles okay?«, frage ich.
»Nein ... Nein, nichts ist okay«, entgegnet sie brüsk. »Ich räume gerade meinen Arbeitsplatz.«
Hurrraaaaaa!
»Mein Gott, das ist ja schrecklich«, entgegne ich mit geheucheltem Mitgefühl. »Warum denn?«
»Gute Frage. Warum fragst du nicht Jamie?«
Hat Jamie sie etwa gefeuert? Oh Jamie, ich liebe dich , Mann, wahrhaftig.
»Er hat aber nicht ... du weißt schon ...«
»Was, mich gefeuert? Doch, genau das hat dieses miese Schwein getan.«
Wieder kullern Tränen über ihre Wangen. Ich bin schockiert. Nicht weil Lydia weint, sondern weil ihre Tränen senkrecht herablaufen. Müssten sie nicht in zwei unterschiedliche Richtungen fließen? Scheiße , jetzt überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Ich habe zwar Lydias Rausschmiss herbeigesehnt, aber nun, wo es so weit ist, fühle ich mich irgendwie schuldig.
»Und warum?« Dumme Frage, zumal die Antwort auf der Hand liegt. »Aber doch nicht wegen ... äh ... dem Zeug auf seinem Schreibtisch?«
»Das Alka-Seltzer? Sei nicht albern. Ich bin gefeuert, weil ich - ich glaube, die Antwort spare ich mir für meine Anwälte auf. Diesem miesen Schwein zahle ich es heim. Der kann sich auf was gefasst machen.«
»Kann ich etwas für dich tun?«, frage ich, da mir die Frage angemessen scheint.
»Das bezweifle ich stark«, erwidert sie und fährt fort, Sachen in den Karton zu packen.
»Es tut mir Leid ... Ich werde dich wirklich vermissen ... Das gilt für uns alle.«
Dies ist die dreisteste Lüge, die ich je in meinem Leben ausgesprochen habe - noch dreister als die mit der angeblich im Rollstuhl sitzenden Sasha -, aber im Moment scheint sie mir vertretbar.
»Blödsinn, Schätzchen«, entgegnet Lydia mit ihrem gewohnten Charme. »Morgen werdet ihr alle auf meinem Grab tanzen. Sag mal, willst du den ganzen Abend hier herumstehen?« Meint sie damit mich, oder hat noch jemand anderes den Raum betreten? Ein kurzer Blick nach hinten sagt mir, dass dort keiner steht. »Ich wäre jetzt gerne alleine«, fügt Lydia hinzu.
Ich trete den Rückzug an und murmle: »Sicher, Lydia. Tut mir Leid. Tja, tschüss dann und ... äh ... Es war ...«
Es war was?
Die Hölle?
Ein Albtraum?
Wie eine OP am offenen Herzen ohne Narkose?
»... fantastisch.«
Was soll ich sonst sagen?
Als ich hinausgehe, fühle ich mich ganz seltsam. Ich schwanke zwischen dem Bedürfnis, einen Freudentanz aufzuführen, und dem, mir die Pulsadern aufzuschneiden. Besser, ich entscheide mich für den Freudentanz. Gott allein weiß, wie unser nächster Chef sein wird, aber er/sie/es kann unmöglich schlimmer sein als Lydia. Selbst wenn es der Schlächter von Piccadilly sein sollte. »Ich benötige deine Herzfrequenz für unsere aktuelle Umfrage. Das Beste wird sein, ich entferne dazu das Herz. Also, Mädchen, schön liegen bleiben und die Augen schließen. Du wirst überhaupt nichts spüren.« Zumindest kann ich mir dann sicher sein, dass tatsächlich ich gemeint bin.
Ich gehe zurück zum Empfang, wo Daniel gerade den Telefonhörer auflegt. Sein ernster Gesichtsausdruck macht mir Angst. Rebecca steht schüchtern hinter ihm. »Was ist?«, frage ich, obwohl ich beinahe platze, um ihm die Neuigkeit mit Lydia mitzuteilen, aber gleichzeitig möchte ich unbedingt wissen, warum er so erschrocken dreinsieht.
»Das war Jamie«, erwidert er. »Er will dich sehen.«
Oh, scheiße.
Oberscheiße.
Das bisschen, in dem Sie meinen Vater kennen lernen (viel Glück)
Als ich den Schlüssel in das Türschloss stecke, werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Zwanzig vor zehn. Gar nicht so schlecht. Mein Vater wird sich zwar bestimmt aufregen, aber wenn ich ihm die Neuigkeit verkünde, wird seine Begeisterung überwiegen.
Oder?
»Hi, ich bin‘s!«, rufe ich laut, als ich die Tür öffne.
»Pschschsch!«, macht mein Vater. Er steht in der Diele und telefoniert. Er lauscht aufmerksam in den Hörer, mit leicht geneigtem Kopf und wütendem Gesicht.
»Das mir ist egal«, sagt er jetzt. »Wir haben einundswansigste Jahrhundert. Alle liefern in Haus. Sogar Babys kommen heute in Haus auf Welt. Bloß die griechische Esel nicht liefern in Haus!« Er sieht mich triumphierend an und sticht mit dem Finger durch die Luft, ein sicheres Zeichen, dass er das letzte Wort hatte. Aber mit wem auch immer er spricht, derjenige kann a) weder das Siegeszeichen sehen
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