Extraleben - Trilogie
hole mir aus dem Kühlschrank ein Bier; es ist so kalt, dass der erste Schluck in der Stirn schmerzt. Wollte immer mal nachschauen, woran das liegt. Seit Grönland gönne ich mir eine kleine Auszeit vom Kalorienzählen, ganz moderat natürlich, aber die harte Soldatendisziplin haut einfach nicht mehr hin. Nur ab und zu ein echtes Bier, mehr nicht, keine täglichen Jahrescurrywürste. Bisher hat es noch nichts geschadet, glaube ich. Beim Hinsetzen zwickt der Chip, den John mir gegeben hat, in der Zippo-Tasche meiner Jeans. Oft habe ich dieses kleine Stück Plastik in den letzten Wochen in die Hand genommen, es immer wieder rumgedreht, von allen Seiten genau angeschaut. Von seinem Geheimnis hat es trotzdem nichts preisgegeben. Es bleibt ein gesichtsloses Stück Kunststoff, zusammengebaut und verpackt von zwanzigjährigen Wanderarbeiterinnen in Vietnam, die abends im Schlafsaal ihre Hello Kitty -Decke über die Ohren ziehen und von Wochenenden in einem Wasserfreizeitpark träumen. Keine Seriennummer, kein Logo, nicht einmal ein spezieller Grauton im Plastik verrät, aus welcher abenteuerlichen Quelle dieser Chip stammt - genau wie der Inhalt: Auch hier haben sich die Herren von der Datacorp anscheinend viel Zeit genommen, um ihre Fingerabdrücke abzuwischen. Statt den Verzeichnissen Namen zu geben, sind sie nur durchnummeriert, kein Dokument enthält Metadaten, alle Dateien wurden mit Programmen erstellt, wie sie millionenfach auf der Welt im Einsatz sind. Selbst ein kurzer Check im Hex-Editor förderte außer Versionsnummern nichts zutage. Das macht natürlich auch Sinn, denn so hat der Besitzer des Chips nichts in der Hand, womit er zur Bild-Zeitung rennen könnte, falls doch kein gemeinsamer Einsatz zustande kommt - wohl ein Zugeständnis an die »Agencies« unter den Kunden. Es ist nur eine Scheibe Silizium ohne Eigenschaften, mit scheinbar wahllos zusammengewürfelten Anleitungen und Handbüchern, die haben es allerdings in sich. Als John von den »Key Systems « sprach, mit denen ich mich vertraut machen sollte, klang das noch ziemlich harmlos. Doch bei näherem Hinsehen hat sich das Pensum als Hardcore entpuppt, vor allem für jemanden wie mich, der fast zehn Jahre nichts mehr gelernt hat, und vorher eigentlich auch nicht: Grundlagen in Cobol, Mainframe-Architektur, Betriebssysteme. Von den meisten Sachen habe ich noch nie etwas gehört - dagegen sind die Apple-II-Lektionen der reinste Spaziergang. Heute stünde eigentlich VOS auf dem Stundenplan, ein altes Betriebssystem für Bankrechner. das nur auf speziellen Servern läuft, Maschinen, die 99,999 Prozent der Zeit online sein müssen. Ganz nebenher informiert mich der Text mit dem bescheidenen Titel »Overview« darüber, dass VOS in der alten IBM-Programmiersprache PL/I verfasst sei und man mit der auch »familiar« sein solle. Langsam fange ich an, mir Sorgen über die Bedeutung dieses Wortes zu machen: familiar, das kommt an ziemlich vielen Stellen vor. Zuerst hatte ich es immer gedeutet als »schon mal was von gehört haben«, doch langsam befürchte ich, die meinen damit »auskennen«, so im Nick'schen Sinne, bis in die letzte Programmzeile Bescheid wissen. Als jemand, der zeitlebens sein Querschnittswissen kultiviert hat, kann ich das natürlich nur ablehnen. Eine frohe Botschaft immerhin hat die Lektion von heute enthalten: Laut den Informationen auf dem Chip wickeln japanische Banken immer noch die Hälfte aller Kreditkartenumsätze über VOS-Maschinen ab, was meine Hoffnung nährt, bald mit einem Hubschrauber über Tokio einzuschweben - vorausgesetzt, die Geschichte stimmt. Vielleicht hat John aber auch einfach nur gemerkt, dass ich Drama so gerne mag wie er, und sich deshalb die Abseil-Story ausgedacht. Überhaupt erscheint mir die Begegnung am Rand der Arktis langsam ziemlich surreal. Ist das wirklich alles passiert? In den drei Wochen, die vergangen sind, seit mich Herr Andersson wieder am Airport in Kangerlussuaq abgesetzt hat, sind die Geheimnisse von Black Ridge II unter einer immer dicker werdenden Schicht aus Alltag verschwunden, wie ein Traum kurz vor dem Aufwachen, der nach der ersten Tasse Kaffee und ein paar U-Bahn-Stationen langsam verblasst und vor der Mittagspause schon aus dem Gedächtnis verschwunden ist. Egal, was wären die Alternativen? Da die Datacorp vorab kein Honorar überwiesen hat, muss ich mich wohl oder übel weiter jeden Tag der brutalstmöglichen Realität stellen - der Arbeit in der Redaktion. Etwas Gutes hat unser Urlaub
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