Extraleben - Trilogie
Lustig übrigens, wie das nachwirkt: Letztens, als wir über einen ehemaligen Stufenkollegen sprachen, der bei Pharmafirmen irgendwelche Software implementiert, meinte Nick völlig ungerührt »Kein Wunder, der war ja in der a.« - obwohl das gut und gerne schon 20 Jahre her ist und in der Oberstufe ja die alten Klassen zusammengeworfen werden. Aber egal: Das Stigma bleibt. Auf anderen Schulen verliefen die Gräben natürlich anders, aber auch da waren in der b meist die Coolsten. Überhaupt keine Diskussion. Wie gesagt: Nick war in der c, und damit hinter einem unüberwindlichen sozialen Graben, denn die Klassen schotteten sich systematisch gegeneinander ab: Die aus der c trugen Nike, wir in der b Adidas. Die in der c gingen während des Schulgottesdienstes am Freitagvormittag beim Plus das erste Pils kaufen, wir ins Café um die Ecke. Die aus der a waren, glaube ich, in der Kirche. In der c hörte man schon The Cure, Ska oder Joy Division, die b steckte noch mit Feargal Sharkey in den Top 40 fest, die in der a fanden Marillion gut; und so weiter und so fort. Kein Kontakt zu den Spastis aus der c oder a oder b zu haben, glich an unserer Schule einem in Stein gemeißelten Gesetz. Diese Grenze konnte nur eines überwinden: Hardware. Dinge, die mit Strom betrieben wurden, waren damals die Basis von vielen Freundschaften, und im Fall von Nick und mir überbrückten zwei 1541-Diskettenlaufwerke mit Speed-DOS die Gräben. Wer diese Zusatzplatine hatte, konnte Commodore-64-Floppys in atemberaubenden 20 Sekunden formatieren. Zeitgenossen ohne den Turbo mussten lähmende anderthalb Minuten warten. So begann unsere Freundschaft. Ich hatte von einem Nachbarn, der auf der Realschule war und über halb kriminelle Kontakte verfügte, gerade einen Schwung neue Spiele bekommen, den der Rest meiner Klasse natürlich auch in die Finger kriegen wollte; und nur Nick verfügte über die nötige Kopier-Power. Also machte man mit möglichst wenigen Worten auf dem Pausenhof ein Treffen aus: Ich: »Morgen, so vier rum?«
Er: »Mm.«
Die Datenfernübertragung konnte starten. Am nächsten Tag schnappte ich mir meinen Stapel Elephant Disks, die teuren Plastiklappen mit dem Werbeslogan: »Elephant never forgets«, und fuhr mit meinem Skateboard zu ihm rüber. Überflüssig zu erwähnen, dass ich sofort alles hasste: das Reihenhaus, seine achso freundliche Mutter, vor allem den Geruch der Familie - da bin ich echt empfindlich. Doch Nicks Medienbunker ließ einen all das vergessen. Er hatte schon damals das volle Programm auf Lager: Sony-Walkman, Technics-Plattenspieler, Harman-Kardon-Boxen, den Original-Monitor für den C64. Obendrein schien es ihm tatsächlich gelungen zu sein, seine Eltern komplett aus seinem Zimmer fernzuhalten. Mit dem Erfolg, dass es hier aussah wie auf der Müllkippe: unbezogene Matratzen, Fernseher in verschiedenen Zerfallsstadien, der Boden mit Platten und leeren Chipstüten übersät, also im Prinzip genau wie heute auch noch. Ordentlich war nur das »Alladin Sane«-Poster von Bowie an der Wand aufgehängt. Irgendwie cool, das musste ich zugeben. Seine phänomenales Gedächtnis hatte Nick damals übrigens noch komplett in den Dienst von Bowie gestellt: Er wusste schlichtweg alles über den Mann, kannte alle Texte auswendig und war bis oben hin voll mit Anekdoten aus der »Berliner Zeit« des Sängers, wie er sagte; gleich am Anfang hat er mir von einer Kneipe erzählt, in der sich die Punks dort immer am Jahrestag des Mauerbaus treffen, um feierlich auf einer Torte in Mauerform herumzuspringen. Bowie sei natürlich auch dabei gewesen. So richtig geglaubt habe ich ihm die Geschichten nicht, aber auf eine wirre Art waren sie zumindest interessant. Nick schaffte es einfach, den Dingen einen Touch von Underground zu geben - ohne dabei so verbohrt rüberzukommen wie die ganzen Independent-Freaks. Eine Sache allerdings sollte nie so richtig zu all dem stylischen Bowie-Kram passen: sein Look. Bis in die Oberstufe hinein trug Nick türkisfarbene Pullis mit Polohemden drunter, hellgraue Socken und ausgelatschte weiße Lederslipper, Typ Schnelltickerschuhe zum raschen Abstreifen. Aber wie gesagt, der Musikgeschmack passte, und das war seinerzeit ja ein ziemliches Killer-Kriterium. Er findet Fischer Z gut? Vergiss es! In seinem Plattenschrank steht Genesis? Peinlich! Er hört Sting? Bei Jungs war da alles zu spät - Frauen gegenüber ließ man mal Gnade walten. Bowie jedenfalls schien kompatibel zu meinen damaligen Favoriten zu
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