Extrem laut und unglaublich nah
Weinkenner, Büroleiter, Sekretärin, Koch, Finanzfachfrau, Vizepräsident, Vogelwächter, Vater, Tellerwäscher, Vietnam-Veteran, junge Mutter, begeisterte Leserin, einziges Kind, professioneller Schachspieler, Fußball trainer, Bruder, Analystin, Oberkellner, Träger des schwarzen Gürtels, Aufsichtsratsvorsitzender, Bridge-Partnerin, Architekt, Klempner, PR – Frau, Vater, Kunststipendiat, Stadtplaner, frisch vermähltes Paar, Investment-Banker, Chefkoch, Elektroinge nieur, frisch gebackener Vater, der an dem Morgen erkältet gewesen war und überlegt hatte, sich krank zu melden … und eines Tages sah ich es dann, Thomas Schell, ich glaubte zuerst, ich wäre selbst gestorben. »Er hinterlässt Frau und Kind«, mein Sohn, dachte ich, mein Enkelkind, dachte ich, ich dachte und dachte und dachte, und dann hörte ich auf zu denken … Beim Landeanflug sah ich Manhattan zum ersten Mal seit vierzig Jahren wieder, ich wusste nicht, ob es hinauf- oder hinabging, die Lichter waren Sterne, ich erkannte keines der Gebäude wieder, ich ließ den Mann wissen: »Um zu trauern versuchen, zu leben«, ich hatte nichts zu verzollen, ich rief deine Mutter an, konnte mich ihr aber nicht erklären, ich rief sie noch einmal an, sie hielt es für einen Scherz, ich rief sie noch einmal an, sie fragte: »Oskar?« Ich ging zum Zeitschriftenstand und ließ mir Geld wechseln, ich versuchte es immer wieder, das Telefon klingelte in einem fort, ich versuchte es noch einmal, es klingelte, ich wartete und versuchte es noch einmal, ich setzte mich auf den Fußboden, ich wusste nicht mehr weiter, ich hatte keine Vorstellung mehr davon, wie es weitergehen sollte, ich versuchte es noch einmal: »Hallo, hier ist die Schell-Residenz. Ich klinge zwar wie ein Anrufbeantworter, aber ich bin am Apparat. Wenn Sie mit mir oder Oma sprechen möchten, warten Sie bitte bis nach dem Signalton, den ich gleich mache: Piiiiiep! Hallo?« Es war eine Kinderstimme, eine Jungenstimme.»Ich bin dran. Wirklich. Ich bin am Apparat. Bonjour?« Ich legte auf. Oma? Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, mit dem Taxi ginge es zu schnell, mit dem Bus auch, wovor hatte ich Angst? Ich legte die Koffer auf einen Gepäckkarren und schob los, erstaunlicherweise versuchte niemand, mich aufzuhalten, nicht einmal, als ich den Karren auf die Straße schob, nicht einmal, als ich ihn am Highway entlangschob, mit jedem Schritt wurde es heller und heißer, das Schieben wurde mir bald zu anstrengend, ich öffnete einen Koffer und holte einen Stapel Briefe heraus, »An mein Kind«, sie waren von 1977, »An mein Kind«, »An mein Kind«, ich überlegte, sie neben mich auf die Straße zu legen und einen Pfad all dessen zu schaffen, was ich dir nicht hatte sagen können, es hätte mir die Last ein bisschen erleichtert, aber ich brachte es nicht übers Herz, denn ich musste dir die Briefe bringen, meinem Kind. Ich winkte ein Taxi heran, als wir die Wohnung deiner Mutter erreichten, war es fast Abend, ich brauchte ein Hotel, ich brauchte etwas zu essen und eine Dusche und Zeit zum Nachdenken, ich riss eine Seite aus meinem Tagebuch und schrieb darauf: »Es tut mir Leid«, ich gab sie beim Portier ab, er sagte: »Für wen ist das?« Ich schrieb: »Für Mrs Schell«, er sagte: »Hier wohnt keine Mrs Schell«, ich schrieb: »Doch«, er sagte: »Wenn hier eine Mrs Schell wohnen würde, wüsste ich das, glauben Sie mir«, aber ich hatte am Telefon ihre Stimme gehört, war sie etwa umgezogen und hatte die Nummer behalten, wie konnte ich sie finden, ich brauchte ein Telefonbuch. Ich schrieb: »3d«, und zeigte es dem Portier. Er sagte: »Mrs Schmidt«, ich schrieb ihm auf: »Das ist ihr Mädchenname.« … Ich wohnte im Gästezimmer, sie stellte mir Essen vor die Tür, ich hörte ihre Schritte, und manchmal glaubte ich zu hören, wie der Rand eines Glases an die Tür stieß, war es ein Glas, aus dem ich früher Wasser getrunken hatte, hatte es je deine Lippen berührt? Ich fand meine Tagebücher aus der Zeit vor meinem Verschwinden, sie lagen in der Standuhr, ich hatte geglaubt, sie hätte sie vernichtet, aber sie hatte sie aufbewahrt, viele waren leer, und viele waren voll, ich kramte darin herum, ich fand das Tagebuch des Nachmittags, an dem wir uns damals begegnet waren, und das Buch vom Tag nach unserer Heirat, ich fand unseren ersten Nicht-Ort und unseren letzten Spaziergang um das Reservoir, ich fand Fotos von Treppengeländern und Spülen und Kaminen, ganz oben auf den Stapeln lag das Buch des
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